Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
einen Schwarm Seemöwen an. Tausende flitzten hin und her und balgten sich kreischend um ein paar Brocken. Ein neuer Tag voller Geschäftigkeit hatte begonnen.
Nur ganz draußen, weit, weit von Boot und Küste entfernt, zog die Möwe Jonathan ganz allein ihre Kreise. In dreißig Meter Höhe senkte sie die Läufe, hob den Schnabel und versuchte schwebend eine ganz enge Kurve zu beschreiben. Die Wendung verringerte die Fluggeschwindigkeit; Jonathan hielt so lange durch, bis das Sausen der Zugluft um seinen Kopf nur noch ein leises Flüstern war und der Ozean unter ihm stillzustehen schien. In äußerster Konzentration machte er die Augen schmal, hielt den Atem an, erzwang noch ein … einziges … kleines … Stück … und dann sträubte sich das Gefieder, er sackte durch und kippte ab.
Niemals dürfen Seemöwen aufhören zu schweben oder zu fliegen, niemals dürfen sie absacken. Für eine Möwe bedeutet das Schmach und Schande.
Aber die Möwe Jonathan war kein gewöhnlicher Vogel.
Die meisten Möwen begnügen sich mit den einfachsten Grundbegriffen des Fliegens, sind zufrieden, von der Küste zum Futter und zurück zu kommen. Ihnen geht es nicht um die Kunst des Fliegens, sondern um das Futter. Jonathan aber war das Fressen unwichtig, er wollte fliegen, liebte es mehr als alles auf der Welt.«
Genau wie ich. Auch mir geht es um die Kunst – um die Kunst des Tötens, dachte John und wischte sich mit dem Handrücken Tränen aus den Augenwinkeln. Wie die Möwe Jonathan bin auch ich anders als all die anderen, bin einer, der dazu verdammt ist, seinen Weg alleine zu gehen. Egal, was die anderen davon halten.
Blinzelnd öffnete er die Augen. Dabei fiel sein Blick auf seinen linken Knöchel, wo sich eine auffällige Tätowierung auf der weißen Haut abzeichnete: Zwei bunte Skorpione, deren gebogene Leiber die Buchstaben ›a‹ und ›n‹ wie eine Klammer umschlossen. Die beiden spiegelbildlichen Skorpione waren so angeordnet, dass sich ihre Zangen und ihre giftigen Schwanzspitzen fast berührten. Die beiden Buchstaben standen als Abkürzung des lateinischen Terminus ›ars necandi‹ – die Kunst des Tötens.
John richtete seinen Oberkörper auf, faltete die Hände vor dem Bauchnabel und meditierte eine gute Stunde. Dann breitete er ein großes braunes Tuch vor sich aus, zerlegte darauf sein Gewehr in alle Einzelteile, ölte und reinigte es feinsäuberlich und baute es anschließend wieder zusammen.
Mit seinem Opel Astra fuhr er ins Bahnhofsparkhaus und verstaute seinen großen Wanderrucksack in einem Schließfach. Dort war die Waffe sicher deponiert. Im Auto oder in der alten Pumpstation ließ er sie nicht zurück. Zu groß war seine Angst, dass trotz aller Vorsichtsmaßnahmen jemand den Rucksack mitsamt seines brisanten Inhalts stehlen könnte. Danach schlenderte er in die Fußgängerzone, kaufte sich mehrere Zeitungen, setzte sich an der Stiftskirche in ein sonniges Straßencafé und frühstückte ausgiebig.
Während er die Zeitungsberichte über die von ihm begangenen beiden Attentate las, belauschte er die Gespräche der Caféhausgäste an den Nebentischen. Sie drehten sich fast ausschließlich um die mysteriöse Mordserie, die seit Samstag die Pfalz erschütterte. Ab und an konnte er sich eines dezenten Schmunzelns nicht erwehren. Besonders amüsierte ihn eine ältere Frau, die ihren Begleiter fragte, ob der Mörder wohl noch einmal zuschlagen werde.
Ja, sicher doch, antwortete John im Stillen – und zwar schon heute Abend.
Nun saß er in Scharfschützenposition auf einem dicken Ast hoch oben in einer majestätischen Buche und lauerte auf sein nächstes Opfer. Von den Fußsohlen bis zu den Haarspitzen stand er unter Hochspannung. Jede Faser seines Körpers war auf die anstehende Aufgabe konzentriert: Auf den einen Schuss, der unbedingt ins Ziel treffen musste. Denn schon ein zweiter Schuss konnte ihn verraten und bedeutete gleichsam das frühzeitige Ende des von ihm zu absolvierenden Hochleistungs-Zehnkampfes.
Eines makabren Zehnkampfes, dessen Ziel einzig und allein darin bestand, in einem vorgegebenen Zeitrahmen zehn Menschen mit jeweils nur einem einzigen Schuss zu töten.
Ich muss es schaffen!
Und ich werde es schaffen!
Unwillkürlich erinnerte er sich an die Lieblingssätze seines Ausbilders, die dieser seinen Eliteschülern immer und immer wieder eingetrichtert hatte: »Die Kunst des Präzisionsschießens besteht darin, dass der Schütze gleichzeitig Waffe, Geschoss
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