Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
Rasenplatzes.
Die Eltern des Jungen!, polterte es plötzlich in seinem Kopf. Die hab ich ja völlig vergessen. Er machte auf dem Absatz kehrt.
»Befindet sich unter Ihnen ein Angehöriger von Marcel Christmann?«, fragte er in die Runde.
Allseitiges Schweigen.
»Ein Freund oder eine Freundin?«
Keine Reaktion.
Er wandte sich an die Zehnkämpferriege, die mit hängenden Köpfen im Kreis beisammenstand. »Kennt ihn jemand von euch näher?«
»Nein«, kam es mehrstimmig zurück.
Komisch, dachte der Kriminalbeamte. Warum ist niemand aus Marcels persönlichem Umfeld zu seinem Wettkampf erschienen?
2
Am späten Samstagnachmittag fand in Tannenbergs Büro eine außerplanmäßige Dienstbesprechung statt. Karl Mertel, der Leiter der kriminaltechnischen Abteilung, war als erster Berichterstatter an der Reihe. Er stand an der Pinnwand und erläuterte eine von ihm angefertigte Tatortskizze.
»Da, wo ich den Baum eingezeichnet habe, saß der Täter. Wir haben in etwa fünf Metern Höhe Faserspuren seiner Kleidung sichergestellt und …«
»Fünf Meter?«, fragte Tannenberg. »War garantiert schwierig, dort hochzuklettern, oder?«
»Na ja, es geht so«, gab Mertel kurz angebunden zurück.
»Ein altes Wrack wie du käme da sicherlich nicht so einfach rauf«, warf Dr. Schönthaler grinsend dazwischen.
Tannenberg verdrehte genervt die Augen, ging aber nicht auf die provokante Bemerkung ein. Stattdessen zog er eine naheliegende Schlussfolgerung: »Jedenfalls wissen wir damit schon mal, dass der Täter ein ziemlich sportlicher Typ sein muss.«
»Sieht ganz danach aus«, pflichtete ihnen der Kriminaltechniker bei.
»Glaubt ihr, dieses Attentat hat irgendwas mit dem Zehnkampf zu tun? Oder mit Sport im Allgemeinen? Steckt dahinter vielleicht irgendeine Symbolik?«, stellte Tannenberg seine Reflexionen zur Diskussion.
Kommissar Schauß zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht, Wolf. Aber eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Ich vermute eher, dass der Täter diesen Platz deshalb ausgewählt hat, weil er dort unerkannt auf sein Opfer lauern, es töten und anschließend unerkannt verschwinden konnte.«
»Wie eine heimtückische Muräne«, meinte der Rechtsmediziner.
Abermals ignorierte Tannenberg den Einwurf seines besten Freundes. »Also kein Zusammenhang mit diesem Wettkampf, sondern nur ein idealer Ort, von dem aus der Heckenschütze gefahrlos zuschlagen konnte«, murmelte er vor sich hin. Er knetete eine Weile nachdenklich sein Kinn. »Durchaus möglich«, stimmte er nickend zu. Anschließend wandte er sich an seinen Kollegen von der Spurensicherung. »Ich hab dich unterbrochen, Karl, bitte, fahr fort.«
Mertel hatte sich inzwischen ein Glas Mineralwasser eingeschenkt und schlenderte nun wieder zurück zur Pinnwand. »Außer den Faserspuren seiner Kleidung haben wir an einem Ast frisch abgeschabte Stellen entdeckt, die wahrscheinlich von der Auflage des Gewehrs stammen. Und am Fuße dieser riesigen Buche lag die Hülse einer Gewehrpatrone.«
Er stockte und folgte mit dem Finger einer gestrichelten Linie, die er von dem Baum aus zu einem rennenden Strichmännchen gezogen hatte. »Hier traf die Kugel auf den Körper des Opfers, hat ihn durchdrungen und ist dann hinter der Tartanbahn in der Böschung gelandet.« Er blies die Backen auf und stieß die Luft geräuschvoll aus. »Das war vielleicht eine Heidenarbeit, bis wir die endlich gefunden hatten.«
»Weiter«, drängte der Leiter des K 1. »Kaliber?«
»7.62.«
»Scharfschützenmunition«, bemerkte Michael Schauß.
»Richtig«, bestätigte der Spurenexperte. »Wird für alle möglichen Präzisionswaffen benutzt, unter anderem für das G 22 der Bundeswehr, das L 96 A 1 der britischen Armee, aber auch für diverse Jagdwaffen.«
»Also eine relativ weitverbreitete Munition.«
»Ja, Wolf, das kann man wohl sagen. Genau wie die Waffen, die diese Munition verwenden. Das G 22 zum Beispiel wird außer von der Bundeswehr auch von der NATO und vielen Spezialeinheiten eingesetzt«, entgegnete Mertel.
»Dann sollten wir umgehend Nachforschungen anstellen, wo ein solches Gewehr als gestohlen gemeldet wurde. Karl, kümmerst du dich bitte darum?«
»Klar, mach ich.«
»Glauben Sie wirklich, das bringt etwas, Chef?«, wandte Kriminalhauptmeister Geiger skeptisch ein. Er saß am Besuchertisch und machte sich eifrig Notizen. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass der Täter derart doof vorgegangen ist und irgendwo in einer Waffenkammer ein
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