Zehnkampf: Tannenbergs zehnter Fall
einrahmten.
Sie trug ein ausgebeultes Sweatshirt und schlabberige Jogginghosen. Trotzdem konnten diese Kleidungsstücke nicht kaschieren, dass sie mindestens einhundert Kilogramm Lebendgewicht durch die Gegend schleppte. Überdies wiesen die in der Wohnung herumwabernden Rauchschwaden und die Alkoholfahne der Frau nicht gerade auf einen gesundheitsbewussten Lebensstil hin.
Nachdem Tannenberg ihre teigige Hand gedrückt und sein Beileid ausgesprochen hatte, führte ihn Marcels Mutter durch einen engen Korridor in ein unaufgeräumtes, stickiges Wohnzimmer. Die curryfarbene Couch war mit Kissen und Decken belagert. Auf dem niederen Holztisch stand eine angebrochene Flasche billiger Rotwein. Mehrere Zigarettenpäckchen, ein Feuerzeug, ein überquellender Aschenbecher und ein fleckiges Weinglas komplettierten dieses deprimierende Stillleben.
Ächzend sank sie auf die Polster nieder. Tannenberg nahm ihr gegenüber auf einem Cordsessel Platz und schlug die Beine übereinander. Er benötigte eine Weile, bis er dieses bedrückende Ambiente einigermaßen verdaut hatte.
Mann, reiß dich zusammen, die arme Frau hat schließlich heute Morgen ihren Sohn verloren!, versuchte ihn seine innere Stimme zur Räson zu bringen.
Verlegen senkte er den Blick auf sein rechtes Knie und schnippte einen unsichtbaren Krümel von der Hose. Gleich darauf hob er wieder den Kopf und musterte das bleiche Gesicht der trauernden Mutter. Sie schien in den letzten Minuten um weitere Jahre gealtert zu sein.
»Frau Christmann, ich möchte Sie in Ihrem Schmerz wirklich nicht noch zusätzlich quälen. Aber Sie werden sicherlich nachvollziehen können, dass wir so schnell wie möglich versuchen müssen, den Täter zu fassen«, bat er um Verständnis. »Damit er nicht noch weiteres Unheil anrichten kann.«
Marcels Mutter nickte tapfer und wischte sich dabei schniefend die Feuchte von den Wangen. Mit fahriger Hand schenkte sie Wein ein und leerte das Glas mit mehreren großen Schlucken. Dann steckte sie eine Zigarette zwischen die farblosen Lippen, entzündete sie und inhalierte einen tiefen Zug.
»Fragen Sie ruhig«, hauchte sie in den ausströmenden weißen Qualm hinein.
»Danke für Ihre Unterstützung«, sagte der Kriminalbeamte. »Sie leben mit Ihrem Sohn alleine in dieser Wohnung?«
Wieder quollen Karin Christmann dicke Tränen aus den Augenwinkeln. Sie griff erneut nach dem Tempo und tupfte die Nässe weg. »Ja, wir haben hier alleine gewohnt«, erwiderte sie schniefend. Sie hatte bereits einiges an Alkohol intus und sprach deshalb nur langsam und behäbig. Ihre Bewegungen führte sie wie in Zeitlupe aus.
»Was ist eigentlich mit Marcels Vater?« Tannenberg blickte sich um. »Lebt er auch hier in der Stadt?«
Leere, mit grauen Tränensäcken unterlegte Augen schauten Tannenberg an. »Nein, er lebt nicht mehr. Er ist vor zwölf Jahren bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen«, hauchte die ungepflegte Frau. Schluchzend ließ sie die Schultern sinken und vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Mein ganzes Leben hab ich mich von morgens bis abends abgerackert, nur, damit es meinem Jungen gut geht. Sogar heute Morgen hab ich arbeiten müssen. Ich konnte noch nicht mal zu seinem Wettkampf kommen. Und jetzt bin ich ganz alleine auf dieser Scheiß-Welt.«
»Marcel hat also keine Geschwister?«
Wimmernd schüttelte Karin Christmann den Kopf.
»Haben Sie irgendeine Vermutung, wer hinter diesem Anschlag stecken könnte?« Als die sichtlich verstörte Frau nicht antwortete, schob Tannenberg behutsam nach: »Hatte Ihr Sohn Feinde?«
Marcels Mutter blickte ihn mit ihren todtraurigen, wässrigen Augen an. »Feinde? Mein Marcel?«, fragte sie verwundert. »Nein. Er war doch der friedlichste Mensch auf der ganzen Welt.«
Das reicht fürs Erste, entschied Tannenberg im Stillen. »Vielen Dank, Frau Christmann. Dürfte ich zum Schluss noch einen Blick in Marcels Zimmer werfen?«, fragte er und erhob sich gemächlich.
Ein kaum merkliches, stummes Nicken.
Während Marcels Mutter im Wohnzimmer zurückblieb und sich eine weitere Zigarette anzündete, betrat der Kriminalbeamte das Zimmer des Mordopfers. Diesmal entsprach der Anblick exakt den Vorstellungen, die er sich vom Domizil eines jungen Leistungssportlers gemacht hatte: An den Wänden hingen Poster seiner Zehnkampf-Idole: Jürgen Hingsen, Roman Sebrle, Frank Busemann, Sigi Wentz. Auch sonst ähnelte das Zimmer frappierend dem seines Neffen: Überall lagen wild verstreut Kleidungsstücke, Sportschuhe,
Weitere Kostenlose Bücher