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Zeichen im Schnee

Zeichen im Schnee

Titel: Zeichen im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie McGrath
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dunkel, als die Piper Super Cub rumpelnd auf der Piste außerhalb von Koyuk landete und Edie Kiglatuk die Stufen hinunterging. Ihr folgte, mit aschfahlem Gesicht, Derek Palliser.
    Zwei Mitarbeiter holten sie mit Schneemobilen ab und brachten sie zu dem Schulgebäude, das als Kontrollpunkt diente. Drinnen saßen an behelfsmäßigen Tischen Teilnehmer und Betreuer und Fahrer und wärmten sich mit heißer Suppe oder Kaffee auf oder hielten ein kurzes Nickerchen, ehe sie sich wieder auf den Weg machten. Sammy saß abseits vom Trubel auf einem Heuballen und drehte und wendete etwas in seiner Hand.
    So verzweifelt hatte er nicht mehr ausgesehen, seit vor neun Monaten sein Sohn Joe gestorben war. Als Edie ihn so allein dasitzen sah, fragte sie sich etwa eine Sekunde lang, weshalb sie ihn verlassen hatte. Aber man konnte nicht nur aus Mitleid bei einem Menschen bleiben, und man konnte auch nicht bleiben, wenn das bedeutete, immer betrunken zu sein. Jetzt saß er vornübergebeugt, die Ellenbogen auf den Beinen, sog durch die Zähne Luft ein und schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war verschrammt, auf seiner Stirn bildete sich ein Bluterguss, der sicher zu einer heftigen Beule anwachsen würde, vielleicht sogar zu einem blauen Auge – aber das Schlimmste war sein Gesichtsausdruck. Nicht mal ein geprügelter Hund hatte je so niedergeschlagen ausgesehen.
    Sie ging zu ihm, legte einen Arm um ihn und drückte ihn an sich.
    «Alles okay? War ein Arzt da?»
    «Ich hab ’ne leichte Gehirnerschütterung und ein paar blaue Flecken, sonst nichts. Der Doc meinte, ich brauche mir keine Sorgen zu machen.» Er betastete die Beule an seiner Stirn. «Ich mache mir eher Sorgen um die Hunde.»
    «Erzählst du uns, was passiert ist?», fragte Edie.
    «Nur ein blöder Unfall, glaube ich, aber so was ist mir echt noch nie passiert.» Sammy sah auf. Sein Gesicht verriet, wie frustriert er war.
    Das Gespann hatte eine niedrige, aber steilwandige Klippe erklommen, ein paar Kilometer außerhalb von Koyuk, und wollte gerade einen steilen Abhang nehmen, der in einer engen Kurve zwischen den Bäumen endete. Die Hunde waren voller Energie, weil sie den Hügel gemeistert hatten, und Sammy ließ die Matte runter, um dem Schlitten einen Dreh zu versetzen, ihn ein wenig zu bremsen und den Hunden so das Signal zu geben, langsamer zu werden.
    «Aber sie sind in den letzten Tagen ein bisschen irre geworden. Vielleicht zu viel Eiweiß im Futter, oder sie haben Holzkopf vermisst, oder sie haben irgendwie gespürt, dass es sozusagen nach Hause geht. Unberechenbar jedenfalls. Keine Ahnung, warum, aber mindestens sechs von ihnen sind schneller geworden und haben den Rest gezwungen, ebenfalls Gas zu geben, und dadurch hat es im gesamten Gespann eine Art Rückkopplung gegeben. Sie sind den Abhang runtergerast, als wäre ihnen der Teufel auf den Fersen.
    Und dann brach das reinste Chaos aus. Die Hunde haben sich überschlagen, sind kreuz und quer übereinandergepurzelt, einige haben sich völlig im Geschirr verheddert und sind in Panik geraten, und die, die noch konnten, haben immer noch fester gezogen.»
    Als der Schlitten am Fuße des Abhangs endlich zum Stehen kam, waren vier von den Hunden schwer verletzt und fünf weitere hatten Schrammen, kleinere Rippenbrüche oder Gehirnerschütterungen. Mit nur noch sechs Hunden blieb Sammy nichts anderes übrig als aufzugeben.
    «Musste der Tierarzt welche einschläfern?»
    Sammy holte tief Luft und schüttelte den Kopf. «Der Tierarzt hat getan, was getan werden musste. Die werden wieder. Im Augenblick kümmert sich eine Familie hier aus dem Dorf um sie. Wir fliegen sie morgen nach Anchorage. Dort bleiben sie im Zwinger und werden versorgt, bis sie nach Autisaq zurückgeschickt werden können.»
    Er hielt ihr das Ding hin, das er in der Hand hielt, ein U-förmiges Stückchen gehärtetes Aluminiumrohr mit Titanspitzen, das geborsten war. «Das Ding hier ist der Grund für den ganzen Ärger.» Er drehte und wendete das Stückchen Metall wieder hin und her und versuchte, zu verstehen, warum ausgerechnet der Bremszug gerissen war. Edie tätschelte seine Schulter. Er zog ihre Hand an sein Gesicht, küsste sie und blieb, die Hand an sein Gesicht gedrückt, einen Moment lang so sitzen. Sie konnte sein Gesicht zwar nicht sehen, aber sie spürte, wie ihre Hand feucht wurde. In den sechs Jahren, die sie zusammen gewesen waren, hatte sie ihn nie weinen sehen. Und in den Jahren danach auch nur ein einziges Mal, als Joe gestorben war.

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