Zeichen im Schnee
sie mich nicht ins Gefängnis stecken.»
«Hat Fonseca dir gesagt, dass du ins Gefängnis kommst?»
«Ja.»
Edie lehnte sich zurück. Sie war sprachlos. Ein Gefühl unterdrückter Wut brach sich in ihr Bahn. Einen Augenblick lang wünschte sie, Schofield wäre noch am Leben und säße hier vor ihr, nur, damit sie ihn umbringen konnte. Eine Schwester kam vorbei, lächelte sie fragend an, und Edie riss sich so weit zusammen, dass sie in der Lage war, mit einem beruhigenden Lächeln zu reagieren.
Als die Schwester wieder weg war, sagte TaniaLee: «Und Annalisa auch.»
Einen Augenblick lang dachte Edie, sie hätte sich verhört, aber als sie das, was TaniaLee ihr erzählt hatte, noch mal Revue passieren ließ, wurde ihr klar, dass sie richtig gehört haben musste. Sie beugte sich zu dem Mädchen vor und nahm ihre Hand. Die Hand war abwechselnd schlaff und zittrig, wie bei etwas, das gerade gestorben war.
«Deine Mutter hat dir gesagt, dass du ins Gefängnis musst?»
Ein Nicken.
«Hör zu, dein Kind ist gestorben, TaniaLee. Lucas ist gestorben. Das ist schrecklich, aber daran ist niemand schuld.»
TaniaLee schüttelte den Kopf. «Es ist meine Schuld.»
«Nein, TaniaLee, am plötzlichen Kindstod ist niemand schuld.» Edie dachte an die Verzweiflung, mit der ein krankes Mädchen aus einer geschlossenen Abteilung ausbrach und durch die Straßen von Anchorage lief, und wurde von Bewunderung für TaniaLees Kraft erfüllt. Dann kamen ihr neue, unerträgliche Gedanken in den Sinn, und sie musste hart kämpfen, um sie wieder zu verdrängen.
«Was glaubst du? Warum hat Annalisa das gesagt?»
Aus dem Augenwinkel sah Edie eine Schwester mit sehr entschlossenem Gesicht auf sie zukommen. Man würde sie auffordern, zu gehen. Ihr blieben nur noch ein paar Sekunden, um die Wahrheit zu erfahren.
«Wieso, TaniaLee, wieso hat deine Mutter dir gesagt, dass du ins Gefängnis musst?»
Sie versuchte, dem Mädchen in die Augen zu sehen, aber TaniaLee wich ihrem Blick aus und begann, ruckartig vor und zurück zu wippen. Die Krankenschwester war jetzt fast bei ihnen. Edie hatte nur noch einen einzigen Versuch. Verzweifelt versuchte sie, sich in das kranke Mädchen hineinzuversetzen. Ein Gedanke tauchte in ihr auf, ein schrecklicher, herzzerreißender Gedanke, aber sie wusste, dass sie ihn trotzdem aussprechen musste.
«Hast du etwas gemacht, damit Tommy für Lucas keine neue Mama mehr sucht? Ist das so, TaniaLee?»
Das Mädchen blickte kurz auf und sah, wie die Schwester auf sie zukam.
«Ja», sagte sie tonlos. «Ich wollte nicht, dass er eine andere Mama bekommt. Ich habe ein Kissen auf ihn draufgemacht. Ich habe ein Kissen auf Lucas draufgemacht, damit ihn keine andere Mama oder kein anderer Papa mehr will.» Die Finger auf dem Schoß fingen wieder an zu arbeiten. «Damit sein Geist für immer bei mir bleibt.»
Die Schwester trat zu ihnen und blieb erwartungsvoll stehen.
Edie warf ihr einen kurzen Blick zu.
«Schon gut», sagte sie, «ich wollte gerade gehen.»
Sie stand auf. Plötzlich fuhr TaniaLee herum und packte Edie am Ärmel. Ihr Gesicht war wild, die gefurchte Stirn Ausdruck höchster Seelenqualen, die Mundwinkel zuckten. Ihre Worte klangen fast wie ein Schrei:
«Aber ich kann ihn nicht finden! Ich kann meinen kleinen Jungen nicht finden!»
Edie betrachtete das Gesicht des Mädchens, die weiche, makellose Haut, und spürte, wie sich in ihrem Bauch etwas löste und nach oben stieg. Sie beugte sich hinunter und drückte TaniaLee zärtlich die Hände. «Es ist nicht deine Schuld, TaniaLee. Du darfst niemals glauben, dass du schuld daran bist.»
In Edies Apartment ging Derek nervös auf und ab und wartete auf sie. Er hatte ein paar von ihren Sachen in eine Tasche gepackt und sie bereits an die Tür gestellt.
«Ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass du etwas rausgefunden hast. Du kannst es mir auf dem Rückflug nach Nome erzählen», sagte er. «Kann Stacey Holzkopf noch mal nehmen? Wenn nicht, dann hat Aileen sicher wen, der ihn abholt. Wir müssen los.»
Er zog an ihrer Hand, versuchte, sie zur Eile zu drängen. Ärgerlich schüttelte Edie ihn ab.
«Was ist denn passiert?»
«Du musst mir versprechen, nicht auszuflippen.» Seine Stimme klang fest und ein bisschen vorsichtig. Er streckte ihr die Hände entgegen, die Handflächen nach vorne gedreht wie Stoppschilder. «Sie haben uns vom Kontrollpunkt in Koyuk angerufen. Sammy hatte einen Unfall. Diesmal wirklich.»
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