Zeichen im Schnee
Edie hatte den Eindruck, dass der Unfall von letzter Nacht irgendwie auf die alten Narben drückte, dass Sammy unter einem Schmerz litt, den er seit jener schlimmen Zeit im letzten Jahr nicht mehr gespürt hatte.
Sammy wischte sich mit der Hand über die Augen. «Ich bin raus», sagte er. «Die Regeln besagen, dass ich die Hunde nicht tauschen und mir keinen Ersatz holen darf, und ich habe nur noch sechs übrig, die noch laufen können, was noch lange nicht heißt, dass sie auch im Geschirr rennen können.»
Es entstand eine Pause, in der keiner von ihnen sprach und in der trotzdem ziemlich viel gesagt wurde.
«Ich muss hierbleiben, bis sie die Hunde ausfliegen, morgen vielleicht. Kannst du mir einen Gefallen tun?» Er legte den Kopf schief und sah Edie an. Ihm war unbehaglich zumute, und seine Wangen röteten sich ganz leicht. «Kannst du Nancy anrufen und ihr sagen, was passiert ist?»
Als er den Namen erwähnte, bemühte Edie sich, kein allzu überraschtes Gesicht zu machen oder, schlimmer noch, enttäuscht auszusehen. Das hatte sie nicht erwartet, aber sie hatte kein Recht, sich zu beschweren. Was auch immer sie jetzt für Sammy empfand, sie durfte nicht vergessen, dass sie es gewesen war, die ihn verlassen hatte. «Ich dachte, ihr hättet euch getrennt?»
Sammy gab ein verlegenes Kichern von sich.
«Du weißt ja, wie das ist.»
Edie wusste genau, wie das war.
«Eines will mir einfach nicht in den Kopf», sagte Sammy. «Wie konnte dieser Scheißbremszug reißen? Die einzige Schwachstelle ist die Schraube, mit der der Bremszug am Schlittenrahmen festgemacht ist! Aber das Metall ist an einer glatten Stelle mitten im Rohr gerissen, etwa zehn Zentimeter über dem Gelenk, wo der Druck aufs Material eigentlich am geringsten sein müsste. Verflixt.»
Edie kam ein Gedanke. Derek warf ihr einen Blick zu. Offensichtlich dachte er das Gleiche wie sie.
So beiläufig wie möglich fragte Edie: «Du, Sammy, ich nehme an, da konnte keiner an deinen Schlitten ran, ohne dass du dabei warst, oder?»
«Mann, Edie!» Sammy sah sie eindringlich an. «Die Leute sind meine Freunde! Und außerdem – wieso sollte denn ausgerechnet mir jemand ein Bein stellen wollen? Ich bin hier ein absoluter Frischling, eine ganz kleine Nummer. Ich hatte noch nicht mal Aussichten auf einen Platz unter den ersten zehn.» Er senkte den Blick und setzte ein beleidigtes Gesicht auf. «Und das wüsstest du auch, wenn du wenigstens ab und zu an der Strecke gewesen wärst, mich vielleicht an dem ein oder anderen Kontrollpunkt mal besucht hättest.»
Edie wurde heiß. Sie hatte schon den Mund aufgemacht, doch dann bemerkte sie Dereks Blick und besann sich. Er hatte recht. Auf einen, der am Boden liegt, tritt man nicht ein, es sei denn, man will ihn bluten sehen.
Sammy sprach weiter. «Ich hatte diese bescheuerte Vorstellung, mit ein paar richtig guten Neuigkeiten nach Autisaq zurückzukommen. Aber das kann ich jetzt vergessen.»
Ein Mann ging an ihnen vorbei. Er hatte einen Huskywelpen unter dem Arm und brachte Edie damit auf eine Idee.
«Hey, seit wann kümmern uns eigentlich
qalunaat
-Regeln?», fragte sie.
Derek zog die Augenbrauen hoch.
«Okay, okay, Derek müssen sie wegen seines Jobs wenigstens ein bisschen kümmern. Aber du und ich, Sammy, wir haben uns doch noch nie einen Hundefurz darum geschert, oder?»
Sammy kniff die Augen zusammen und schenkte Edie einen Seitenblick. Edie erwiderte ihn mit einem ihrer ganz speziell für Sammy reservierten Blicke.
«Was führst du im Schilde, Edie Kiglatuk?»
«Offiziell darfst du das Rennen nicht mehr zu Ende fahren. Na und? Glaubst du, in Autisaq würde das irgendjemand merken? Oder, wenn es jemand merkt, glaubst du, irgendjemand würde sich darum scheren? In Koyuk gibt es mit Sicherheit wen, der dir seine Hunde vermietet. Wenn du mich fragst, dann brauchen wir nicht länger als ein paar Stunden, um ein neues Gespann zusammenzubekommen. Du könntest bei Sonnenuntergang schon wieder auf der Strecke sein.» Sie deutete mit dem Kinn auf seine Verletzungen. «Glaubst du, du schaffst das?»
Sammys Gesicht hellte sich auf, und er lächelte. Er sah Derek an und deutete mit gerecktem Daumen auf Edie.
«Pikkaniqtuq.»
Eine ganz Schlaue!
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35
«Das ist eine ganz schön heftige Behauptung, die Sie da aufstellen. Sind Sie da auch sicher?»
Aileen Logan nahm das piepsende Handy vom Tisch, warf einen Blick aufs Display und drückte den Anruf weg. Um sie herum herrschte hektisches
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