Zeichen im Schnee
Zeitschriften auf den Tisch zwischen ihnen. «Hab ich dir mitgebracht.»
Die Augen des Mädchens leuchteten auf. Sie legte sich den Stapel auf den Schoß und fing an zu blättern.
«Weißt du noch, worüber wir das letzte Mal gesprochen haben?» TaniaLee hielt den Blick fest auf die Zeitschrift in ihren Händen gerichtet und schüttelte den Kopf. Die Hände zitterten, und Edie bemerkte in ihrer Körperhaltung eine gewisse Steifheit. Sie stand immer noch unter dem Einfluss starker Medikamente.
«TaniaLee? Hat Mr. Schofield dir jemals weh getan?»
Das Mädchen ließ die Zeitschrift in den Schoß fallen. Ein schmerzvoller Ausdruck huschte über ihr Gesicht. Edie fragte sich, ob TaniaLee wusste, dass der Mann, den sie als ihren Ehemann bezeichnete, tot war. Wahrscheinlich hielten sie solche Sachen von einem fern, wenn man in so einem Zustand war wie TaniaLee.
«Fonseca hat mir nie weh getan», sagte sie. Ihre Stimme klang gereizt und schrill. «Er war mein Mann.»
«Wer hat dir denn weh getan, TaniaLee?» Einem inneren Impuls folgend fügte Edie hinzu: «Tommy?»
Das Mädchen nickte.
Edie fragte sich, ob es möglich war, jemanden, den man kannte, in zwei verschiedene Persönlichkeiten aufzuspalten, in eine, die man mochte, und in eine, die man nicht mochte. Vielleicht hatte TaniaLee genau das getan. Da gab es die gute Seite, den Mann, den sie Fonseca nannte, und die schlechte.
«Hat Tommy Lucas auch weh getan, TaniaLee?»
Das Mädchen sah auf. Ihre Augen waren glasig, aber Edie sah, dass etwas von dem, was sie gerade gesagt hatte, zu ihr durchgedrungen war.
«Er sagte, er will, dass Lucas ein gutes Leben hat. Er sagte, Lucas braucht eine neue Mama, jemand Besseres als mich.»
Edie beugte sich vor. Sie spürte, wie dicht TaniaLee davor war, etwas preiszugeben.
«Hat Tommy gesagt, dass er dir Lucas wegnehmen wird?»
TaniaLees Augen füllten sich mit Tränen. Vor dem linken Nasenloch bildete sich eine Rotzblase. Edie sah sich um, um sicherzugehen, dass niemand vom Personal sie beobachtete, dann berührte sie den Arm des Mädchens und drückte ihn.
«Es ist gut, TaniaLee.»
Das Mädchen wandte den Kopf und sah Edie an.
«Nein», sagte sie. Sie schüttelte den Kopf. «Es ist nicht gut.» Sie sah geknickt aus, unendlich verletzlich. Edie zog das Stückchen Hasenfell aus der Tasche, das sie immer bei sich trug, um sich das Gesicht warmzurubbeln, und fing an, mit dem weichen Pelz ganz sanft TaniaLees Schläfen zu streicheln. Das Mädchen schloss die Augen. Ihre Wangen wurden rosig, und ein zaghafter Ausdruck des Genießens breitete sich über ihr Gesicht aus. Edie streichelte sie eine Weile, bis sie spürte, dass TaniaLee sich beruhigt hatte.
«Hat Tommy dich je mit einem anderen schlafen lassen? Es ist dir keiner böse, wenn es so wäre. Das war nicht deine Schuld.»
«Ich weiß nicht», sagte sie. «Ein Typ, glaube ich, ein paarmal.»
«Weißt du noch, wie er heißt?»
Sie schüttelte den Kopf. Dann sagte sie: «Er hatte eine große Nase.» Sie machte die Augen auf und starrte wieder in den Fernseher. Plötzlich wurden ihre Pupillen glasig. Edie fürchtete, dass ihr für ihre Fragen nicht mehr viel Zeit blieb.
«Hat man dir gesagt, warum du krank bist?»
«Hmhm. Wegen dem Baby.»
Edie musste an ihre Cousine denken. Es hatte ein Jahr gedauert, bis sie die Diagnose postnatale Psychose bekommen hatte. Die ersten paar Monate hatte die Familie gedacht, sie würde an
pitoq
leiden, an Polarwahn, verursacht durch vier Monate ständige Dunkelheit, aber als der Frühling kam und die Sonne wieder aufging, wurde es immer noch nicht besser. Ihre Familie sagte, der
pitoq
hätte ihren Geist auf den Boden des Meeres geschickt, wo er sich im Seetang verfangen hatte, und sie sangen für Sedna, den weiblichen Geist der Meere, damit sie Walrosse zum Meeresboden schickte, die das Seegras fraßen. Sie bauten ihr ein Iglu, und ihre Mutter zog mit ihr dort ein. Als sie endlich die Diagnose bekam, ging es ihr schon wieder besser, doch der
qalunaat
-Doktor bestand darauf, sie zu behandeln. Er gab ihr Medikamente, die dafür sorgten, dass sie zitterte und nicht mehr wusste, wie sie hieß. Danach ging es ihr lange Zeit nicht gut.
«TaniaLee, das hier bleibt alles unter uns, verstehst du? Das wissen nur wir beide. Hat Tommy dir gesagt, du sollst erzählen, die Altgläubigen hätten dir deinen Sohn weggenommen?»
Das Gesicht des Mädchens verzog sich wieder.
«Das hat Fonseca mir gesagt. Er hat gesagt, das muss ich sagen, damit
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