Zeichen im Schnee
hatte ihn noch nicht ganz verlassen, es lungerte noch ein bisschen herum, hartnäckig wie eine alte, schlechte Angewohnheit. Das ist jetzt nicht wahr, dachte er, und wusste doch gleichzeitig, dass es geschah. Dann wurde es ihm klar.
Es passiert tatsächlich.
Und dafür hatte Foggy Banks’ Kumpel gesorgt.
Die Stationair verlor jetzt schnell an Höhe. Vermutlich blieben ihm nur noch ein paar Minuten. Wenn es so weit war, würde die Maschine ins Trudeln geraten und schließlich abstürzen. Gedanken schossen wie Sternschnuppen durch ihn hindurch. Der Adrenalinschub, der durch seine Adern schoss, war fast unerträglich. Er fühlte sich benommen, außerhalb des Geschehens, so, als würde er die Situation auf der Mattscheibe sehen. Er justierte die Querruder, und das Flugzeug fing an zu rollen wie ein Boot im Sturm auf hoher See. Aus irgendeinem Grund empfand er die Bewegung kurzfristig als beruhigend. Er dachte an sich selbst als kleines Kind zurück, wie seine Mutter ihn sanft in der Wiege schaukelte, die sein Vater für ihn gezimmert hatte. Unter ihm glitzerten die Berge. Er schloss kurz die Augen und versuchte, das Gefühl der Einheit mit dem Denali wiederherzustellen, das er gerade noch so innig verspürt hatte. Das Flugzeug neigte sich zur Seite und fing an zu trudeln, und er registrierte undeutlich, wie er verzweifelt an den Schaltern knipste. Doch es war zu spät. Zu allen Seiten hörte er die Luft vorbeirauschen. Er hob die Arme und löste den Sicherheitsgurt. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, zu schweben, und er fragte sich, ob er schon gestorben war. Doch dann sah er die Berge in rasender Geschwindigkeit auf sich zukommen, und er wusste, dass der Aufprall noch bevorstand. Er versuchte, sich mit schierer Willenskraft in eine Ohnmacht zu zwingen, was ihm den Horror seiner Situation jedoch nur noch bewusster machte.
Das Letzte, was Bürgermeister Chuck Hillingberg in diesem Leben in den Sinn kam, waren die Worte seiner Frau.
Lass dir Zeit.
Er hörte sich selber bitter auflachen. Sie wusste es. Marsha wusste es. Trotz allem musste er lächeln. Jetzt lasse ich mir Zeit, Marsha, dachte er. Ich nehme mir alle Zeit der Welt.
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38
Sie wachte frierend auf, hatte das Gefühl, außerhalb ihres Körpers zu sein. Sie konnte sich selbst daliegen sehen, auf einer Art Betonboden, aber ein Gefühl sagte ihr, dass sich alles, was sie ausmachte, verflüssigt hatte und frei herumwirbelte und wogte, ohne klar umrissene Grenzen. Sie registrierte einen starken, scharfen Geruch, der ihr bekannt vorkam, doch sie konnte ihn nicht einordnen. Ihr Verstand fühlte sich genauso flüssig an wie ihr Körper, wie ein Ölfleck auf dem wogenden Meer.
Eine Frauenstimme drang in ihr Bewusstsein. Sie machte die Augen auf, aber nichts geschah. Die Stimme sprach weiter, leise und beharrlich. Sie versuchte, sich ein Iglu vorzustellen und sich darin. Das half ihr, sich zu sammeln. Sie drehte den Kopf in Richtung der Stimme. Vor ihr war ein Vorhang aus Metallgittern. Ein blasses Gesicht tauchte auf, umrahmt von einem wirren Schopf schmutzigblonder Haare.
«Wo bin ich?»
«Alles gut.» Die Stimme der Frau klang wie unter Wasser. «Sie hat dir Nembie gegeben, deswegen bist du komisch.»
Edie wusste nicht, was Nembie war, und es war ihr auch egal. Sie versuchte den Schmerz an ihrem Schädel wegzublinzeln. Als sie die Stelle mit der Hand berührte, waren die Finger hinterher rostrot und rochen sauer. Ein Wort blitzte in ihr auf. Ammoniak. Das war es. Hier roch es durchdringend nach Pisse. Die Stimme unterbrach ihren Gedankenfluss.
«Du hast Bumms auf Kopf gekriegt, Edie. Sieht aus wie auf alte Beule obendrauf.»
Die Stimme wartete, bis Edie begriffen hatte. Die Frau wusste also, wer sie war.
«Ich bin Lena. Ich habe angerufen, ja? Du bist zu meinem Haus gekommen.» Plötzlich verstummte sie. Edie blinzelte ein paarmal und stellte sich wieder vor, sicher in ihrem Iglu zu sitzen.
Eine Tür ging auf, und vor dem Käfig war eine zweite Stimme zu hören.
«Du bist dümmer, als ich dachte! Das ist nicht dein Kampf, verdammt noch mal! Das hier ist nicht mal dein Land!»
Diese Stimme erkannte sie sofort. Sie sprach weiter, eindringlich: «Ich bin fair gewesen, ich hab dich sogar vorgewarnt. Aber du hast ein Fell so dick wie Walrosshaut. Das hier hast du dir selbst eingebrockt. Du hättest aufhören müssen, als ich deinen Ex aus dem Rennen genommen habe, aber um das zu kapieren, warst du zu dämlich. Du hast dir wirklich den
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