Zeichen im Schnee
den Käfig nach irgendetwas abzusuchen, das sich eignete, um das Schloss zu knacken. Die Käfige waren ausgespritzt und gereinigt worden, mit zwei Lagen Maschendraht abgeblendet und, wie es aussah, mit Lötdraht an den Halterungen befestigt. Außer einer Schüssel mit Wasser war der Käfig leer. Sie versuchte, sich auf den Maschendraht zu konzentrieren, suchte nach einem losen Ende, einem Riss oder einer Schweißnaht, die sich auftrennen ließ, aber der Draht war von schwerer Qualität und sah neu aus.
Nach einer langen Zeit hörte sie etwas zischen. Lena drückte sich gegen den Draht des Nachbarkäfigs. Es war ihr gelungen, zwei Finger durch die Maschen zu schieben.
«Was hast du?»
«Haarnadel.»
«Zeig her.» Sie lehnte sich gegen den Maschendraht und konzentrierte sich auf die Hand. Die Finger bewegten sich, und ein dünner, u-förmiger Gegenstand erschien.
«War mitten in meinen Haaren drin», sagte Lena. «Aileen hat mir Zopf aufgemacht, aber das war übrig.»
Edie nahm die Nadel, sah sie an und dann das Schloss. Etwas Besseres würde sie nicht kriegen. Sie rutschte nach vorne. Ihr Blick verschwamm. Sie streckte die Finger durch den Draht, aber für die ganze Hand war die Lücke zu eng. Ihre Fingerspitzen berührten das Schloss, aber es rutschte weg. Was sie jetzt brauchte, war Konzentration! Sie schloss die Augen und dachte an die Szene aus
Ausgerechnet Wolkenkratzer!
, in der Harold Lloyd ohne Netz und doppelten Boden frei an den Zeigern einer riesigen Uhr hoch über der Stadt baumelt. Sie stellte sich vor, sie würde selbst an diesen Zeigern baumeln, bis sie das Gefühl hatte, ihr Kopf würde sich jeden Moment in eine winzige Kugel aus grellem, weißem Licht verwandeln. Ohne die Augen zu öffnen, schob sie die Finger durch den Draht, schlang die beiden äußersten Finger der rechten Hand um das Schloss, um es zu stabilisieren, schob mit Daumen und Zeigefinger die Haarnadel hinein und stocherte so lange gegen jeden einzelnen Bolzen, bis das Schloss nachgab und sie frei war.
Im Nachbarkäfig hatte Lena angefangen zu keuchen. Auf unsicheren Beinen schwankte Edie zu ihr hinüber und packte das Schloss. Lena zitterte inzwischen, und sie röchelte. Es ließ sich nicht sagen, ob es an den Medikamenten lag, die sie bekommen hatte, oder ob es eine Panikattacke war. Jedenfalls machte es Edie die Arbeit nicht leichter. Sie schloss die Augen und stellte sich wieder die Uhrenszene vor. Sie zwang sich, ruhig zu atmen, steckte die Haarnadel in das Schloss und spürte plötzlich, wie sie nachgab. Sie zog die Nadel heraus. Sie war abgebrochen. Eine Sekunde lang starrten beide Frauen das Schloss an. Lena verzog das Gesicht. Sie holte tief Luft und sah Edie an. Ihr Kiefer war angespannt, und neuer Glanz lag in ihren Augen.
«Geh du», sagte sie.
«Lena, ich hole dich hier raus.»
Lena schüttelte den Kopf. Sie fasste sich an die Haare und riss sich eine Strähne aus.
«Bring das zu Detective Truro. Er ist guter Mann, Edie. Ein bisschen plemplem mit Religion, aber gut zu Arbeitermädchen.»
Edie sah die Haarsträhne an, nahm sie aber nicht. «Wir gehen zusammen, Lena.»
Lena schüttelte traurig den Kopf. «Wenn Aileen mich nicht tötet, dann sie schieben mich ab. Hör zu, Edie. Ich will, dass du was weißt. Jonny Doe, dieser Babyjunge, er war mein Sohn. Sein Name ist Vasily Chuchin. Diese Haare sind Beweis. Und noch was. Olga weiß, wo Film ist. Sie ist weggelaufen, will ihr Kind beschützen. Sie wird dir geben.» Lena fing an zu weinen. «Bitte! Für Vasily.»
In Edies Kopf fing es heftig an zu pochen, und es überkam sie eine Woge von Übelkeit. Einen Moment lang stand sie vornübergebeugt da, dann holte sie tief Luft.
«Lena, das kannst du mir alles erzählen, wenn wir hier raus sind.»
Sie schlich zur Tür. Sie war von außen abgesperrt. Langsam schob sie sich an das Fenster und spähte hinaus. Die Tür zu dem Zwinger war mit einem einfachen Vorhängeschloss gesichert. Das Schloss selbst war leicht zu knacken, aber quer vor die Tür war noch eine Eisenstange gelegt worden, die mit einem riesigen Schloss an der Wand befestigt war. Außerdem lag die Tür genau gegenüber von Aileens Haus. Im Inneren konnte sie Aileen mit zwei Telefonen hantieren sehen. Es sah nicht so aus, als würde sie jeden Moment rüberkommen. Sobald sie Lena aus ihrem Käfig befreit hatte, mussten sie irgendwie zu den Fenstern raufklettern und sich raus ins Freie quetschen. Sie sah sich nach etwas um, mit dem sie das Schloss knacken
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