Zeichen im Schnee
schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht. Ich sollte jetzt eigentlich oben in Nome beim Rennen sein, und du bist schuld, dass das nicht geht!» Aileen Logan saugte an ihrer Unterlippe. Ihr Gesicht hinter dem Gitterdraht wirkte riesig. «Kapierst du das?
Du bist schuld daran!
»
Eine Tür ging auf, sie hörten, wie ein Schloss einschnappte, und Aileen war wieder verschwunden. Edie setzte sich auf, lehnte sich an das Gitter und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
«Nembie?»
«Nembutal. Aileen sagt, ist für Betäubung von Hunden», flüsterte Lena. «Aber hör mal, bleib wach, du kannst dagegen kämpfen.»
Edie richtete ihren Blick zuerst auf das Gitter und dann auf Lena. Sie hörte ihren eigenen Atem. Er ging tief und langsam, und sie zwang sich, ihn zu beschleunigen. Es dauerte nicht lange, und sie konnte beides gleichzeitig sehen, das Gitter und Lena. Erst da kapierte sie, dass sie in zwei Gitterkäfigen saßen, wie man sie in Hundezwingern benutzte. Sie waren eingesperrt, die Türen waren mit Vorhängeschlössern gesichert. Die Käfige gingen auf einen Laufweg hinaus, beleuchtet von zwei Fenstern unter einem hohen Dachvorsprung. Dieses Gebäude war offensichtlich nicht immer ein Zwinger gewesen. Das hohe Dach ließ darauf schließen, dass es früher anders genutzt worden war. Bis auf das kleine vergitterte Sichtfenster wirkte die Tür nach draußen solide. Sie war von außen abgesperrt.
«Hat das hier irgendwas mit dem Film von der Überwachungskamera zu tun, von dem du mir am Telefon erzählt hast?»
«Jaha.»
Edie brauchte eine Weile, um das zu verarbeiten. Dann sagte sie: «Wieso weiß Aileen überhaupt davon?»
«Marsha Hillingberg», zischte Lena. «Aileen und Marsha haben telefoniert, als Aileen mich mit Auto hergebracht hat. Ich glaube, sie sind Liebespaar. Aileen hat ihr ‹Liebling› gesagt.»
Einen Moment lang glaubte Edie, sie hätte sich verhört. Aileen Logan und Marsha Hillingberg ein Liebespaar? Das klang völlig verrückt. Aber wahrscheinlich interessierte die Frage, wer es hier mit wem trieb, viel weniger, als wie sie aus diesem Schlamassel wieder rauskommen sollten.
«Wir müssen schnell Ausweg finden», sagte Lena.
Edie spürte, dass sie wieder wegdriftete. Sie sah Sedna, den weiblichen Meergeist vor sich, die Männer und Frauen in großen Seegraswäldern gefangen hielt, um nicht allein zu sein. Eine Erinnerung aus ihrer Kindheit tauchte auf, wie sie von einer Robbe unter Wasser gezogen wurde, um zu Sedna gebracht zu werden. Sie sah ein Gesicht unter Wasser, doch es war nicht Sednas Gesicht. Es war das Gesicht ihres ermordeten Stiefsohns Joe, und er rief sie bei dem Namen, den er ihr immer gegeben hatte.
Kigga, Kigga.
Und dann war sie plötzlich ein Vogel und flog und flog, hoch hinauf, und saß auf dem Rücken des Geisterbären, und der Geisterbär kletterte Felsen hinauf und aus dem Wald hinaus, und dann war sie wieder in der Tundra, und überall um sie herum waren eisverkrustete Felsen und karge, zerzauste Pflanzen, leuchtend gelbe und rote Flechten, das gefrorene Meer und die grünblauen Eisberge ihrer Heimat auf Ellesmere Island.
Dann blinzelte sie und spürte Wasser und erinnerte sich daran, dass sie überhaupt nicht im Meer war. Sie schlug die Augen auf und rieb sich das Gesicht und spürte eine kühle Flüssigkeit. Und dann sah sie, dass Lena im Nachbarkäfig die Finger in eine Schale tauchte und Wasser zu ihr hinüberschnippte, damit sie nicht wieder einschlief, und einen Augenblick lang spürte sie, wie ihr die Augen wieder zufielen. Ein heftiger Widerstand überkam sie, weil sie nur noch ausruhen wollte, aber sie blinzelte und blinzelte und schüttelte den Kopf, und die Welle brach sich über ihr und erstarb.
Und in diesem Augenblick fiel ihr die einzige Sache ein, die sie über Vorhängeschlösser wusste. Sie wusste, wie man sie knackte. Der Gedanke machte sie wach. Wie aus weiter Ferne spürte sie einen winzigen Funken Adrenalin in sich. Plötzlich war der schmerzhafte Zustand ihres Verstandes verflogen, und ein Spalt aus Klarheit öffnete sich wie eine Wolkenlücke, durch die an einem trüben Tag auf einmal ein Sonnenstrahl bricht.
«Lena», zischte sie «wir brauchen was Spitzes, einen Zahnstocher oder ein Stück Draht.»
Edie biss sich auf die Lippe, bis Blut kam und sie den warmen, metallischen Geschmack im Mund hatte. In der Hoffnung, dass der Sauerstoff ihr den Verstand klärte, tat sie sechs tiefe Atemzüge, blinzelte, um sich zu konzentrieren, und fing an,
Weitere Kostenlose Bücher