Zeichen im Schnee
konnte. Direkt vor ihren Füßen entdeckte sie eine Hundekralle. Sie hob sie auf. Es war eine Afterkralle, gebogen und trocken und spitz wie ein Reißnagel. Perfekt. Kurz darauf gab das Schloss nach, und Lena stand auf dem Gang. Sie suchten den Raum nach einer Kletterhilfe ab, dann hatte Edie eine Idee. «Lena, trägst du eine Thermounterhose?»
«Natürlich», sagte Lena. «Ist März in Alaska.»
«Ziehst du sie aus?»
Lena schenkte ihr ein bitteres Lächeln. «Ist mein Job!»
Momente später hielt Edie zwei lange Unterhosen in der Hand. Sie knotete sie zusammen und formte an einem Ende eine Schlinge. «Eine von uns macht der anderen die Räuberleiter. Die, die oben ist, muss diese Schlinge über den Fensterriegel da oben werfen und sich dann rauf- und rausziehen.»
Lena folgte Edies Blick.
«Ich weiß nicht, ob sicher ist!», sagte Lena.
«Hast du eine andere Idee?»
«Nein.»
«Okay. Also, du stemmst dich mit der Schulter gegen die Wand und faltest deine Hände, so!»
Beim vierten Versuch landete die Schlinge über dem Riegel. Edie zog sie eilig zu und hängte sich an das provisorische Seil. Die Anstrengung hatte ihre Kopfwunde stärker durchblutet, und sie musste warten, bis der Schmerz wieder ein wenig abgeklungen war. Mit Hilfe der Wand kletterte sie nach oben, schwang ein Bein über das Fenstersims, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen, und schob sich mit aller Kraft hinaus aufs Dach. Einen Moment lang blieb sie flach auf den schneebedeckten Schindeln liegen, die Füße gegen zwei Schneefanghaken gestützt, und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Sie befand sich auf der Rückseite des Hundezwingers und war wahrscheinlich vom Haus aus zu sehen, sollte Aileen zufällig hinausschauen. Sie band die Schlinge von dem Riegel los, befestigte sie an einem Schneehaken und zerrte versuchshalber ein paarmal daran. Dann beugte sie sich durchs Fenster zu Lena hinein und bedeutete ihr mit Handzeichen, zu ihr hochzuklettern. Das Unterhosenseil zog sich straff. Auf halber Strecke fing der Haken im Dach an zu quietschen und verbog sich, aber er hielt. Dann erklang vom Haus ein Geräusch. Edie erstarrte. Aus dem Augenwinkel sah sie die Hintertür auffliegen und Aileen quer über den Hof auf den Zwinger zugehen. Edie rutschte auf dem Bauch zum Fenster und beugte sich hinein. Lena hatte etwa drei Viertel der Höhe gemeistert.
«Schnell, schnell! Aileen kommt!»
Lena hörte auf zu klettern und sah zu ihr hoch. Resignation lag in ihrem Blick.
«Tu das nicht, Lena! Gib jetzt nicht auf!» Edie streckte ihr die Hand entgegen. Die Frau war nur noch einen einzigen Meter von Fenster und Freiheit entfernt. Edie sah, wie Lena erst nach unten und dann wieder nach oben schaute, unsicher, was sie jetzt tun sollte.
«Lena! Sieh mich an!»
Die junge Frau sah zu ihr hoch, und die Haare fielen ihr über den Rücken. In dem Augenblick klingelte irgendwo ein Telefon. Edie hörte Aileens Stimme. Sie war stehen geblieben. Die nächste Woge Übelkeit schwappte aus Edies Bauch nach oben. Sie holte tief Luft.
«Man kann ein Kind verlieren, und trotzdem kann das Leben noch lebenswert sein. Glaub mir, Lena. Komm hoch, komm hoch, zum Fenster raus!»
Sie sah, wie die Frau die Lippen zusammenpresste und den Kiefer anspannte. Sie streckte die Hand aus und hievte sich hinaus aufs Dach. Edie legte ihr die Hand auf den Mund, um sie davon abzuhalten, etwas zu sagen, und bedeutete ihr mit Gesten, sich flach zu machen. Aileen telefonierte immer noch. Sie hatte ihnen den Rücken zugewandt. Hektisch zerrte Edie das Unterhosenseil aufs Dach. Lena packte es und fing an, sich abzuseilen. Am Ende angelangt, sah sie nach unten. Bis zum Boden waren es noch ein paar Meter. Dann ließ sie los. Edie folgte ihr nach, doch sie rutschte auf einem Flecken Eis aus und knickte mit dem Fuß um. Aileen beendete ihr Telefonat, und Edie deutete auf ein dichtes Erlengebüsch neben dem Zwinger. Sie rannten los, die Schritte vom Schnee gedämpft. Sie hörten, wie Aileen sich an dem Vorhängeschloss zu schaffen machte, drehten sich um und schlugen sich weiter in das Dickicht hinein. Edie musste sich auf die Lippe beißen, um vor Schmerz nicht laut aufzuschreien. Kurz darauf stießen sie auf einen elektrisch gesicherten Drahtzaun. Edie kletterte hinauf und bedeutete Lena, ihr zu folgen. Oben angekommen, umwickelte Edie sich die Hände mit den Jackenärmeln, streckte die Arme aus, wappnete sich und umfasste den Elektrodraht. Ein Schlag fuhr durch ihre Hände und hinterließ
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