Zeichen im Schnee
Namensschild, dann machte sie große Augen. «Oh, hey», sagte sie. «Na klar, Sie unterstützen den Schlittenführer, der auf einen von seinen Hunden verzichten muss, stimmt’s?» Ihr Gesicht drückte Mitgefühl aus. «Ich habe von Ihrer Teamkollegin in Anchorage gehört. Das ist ja ’ne schöne Scheiße.» Sie wartete, bis Derek sich einen Kaffeebecher genommen hatte, und fuhr dann fort: «Wenn Sie mich fragen, Alaska ist das herrlichste Land der Welt, aber auch wir haben einen gehörigen Anteil an Spinnern. Vielleicht mehr als die meisten anderen.» Sie beugte sich vor – ihr Atem war feucht und roch nach Kaffee – und senkte die Stimme. «Die Leute hier mögen diese Altgläubigentypen nicht besonders. Seit Jahren kursieren Gerüchte über die.»
Derek wollte sie gerade bitten, das näher zu erläutern, als eine Frau Mitte dreißig angehetzt kam, die Derek aus der Informationsbroschüre als Chrissie Caley kannte, eine Mitarbeiterin der Rennleitung. Sie entschuldigte sich für die Störung und forderte Aileens Aufmerksamkeit für eine dringende Angelegenheit. Aileen zog in milder Verzweiflung die Augenbrauen hoch, entschuldigte sich, und die zwei Frauen gingen in Richtung Pressezimmer.
Weil er, zumindest vorerst, von den Frauen nichts weiter erfahren konnte, ging Derek hinaus auf den mit Salz bestreuten Parkplatz, der von hohen, schmutzigen Schneewehen gesäumt war. Er brachte sein Schneemobil in Gang und fuhr durch die Front Street langsam zurück.
Die Stadt Nome in Alaska war größer und besser entwickelt als Kuujuaq, die ferne Siedlung auf Ellesmere, wo Derek den größten Teil seines Lebens verbracht hatte, aber Nome kam ihm von Anfang an vertraut vor. Ungeachtet ihrer exakten geographischen Beschaffenheit schienen alle Tundrasiedlungen die immer selben drei oder vier Eigenschaften zu haben: Die Stadt hatte etwas Trostloses, Ergebenes, das beinahe einem Mangel an Selbstachtung gleichkam; sie vermittelte einem das Gefühl, durch die Landschaft ringsum zur Bedeutungslosigkeit zu schrumpfen, und sie verschaffte einem das sonderbare Empfinden absoluter Handlungsfreiheit, das sich beharrlich hielt, obwohl kein Zweifel daran bestand, dass sich jeder Furz schon im Ort herumgesprochen hatte, ehe man auch nur dazu kam, sich die Hose hochzuziehen.
Derek kam am Postamt und an einem U-Bahn-Übergang vorbei und erblickte auf der anderen Seite eine Imbissbude, die japanische Pizza anbot. Davor war eine Handvoll Leute zu sehen, ansonsten war die Straße recht still. Anscheinend befanden sich alle Bewohner in einer der fünf, sechs schäbigen Kneipen, die sich auf die Uferseite der Straße verteilten und so nette Namen trugen wie «Nordlicht» und «Husky». An den Fenstern hatten sich Rinnsale von Kondenswasser gebildet, durch die man schemenhaft wimmelnde Schatten erkennen konnte.
Derek bog in eine Nebenstraße ein und brachte das Schneemobil neben dem überfüllten Haus seines alten Freundes Zach Barefoot zum Stehen, dessen Hof ein einziger Schrotthaufen aus altem kaputtem Werkzeug war. Er stellte den Motor ab und stieg die Stufen zum Haus hinauf. Das Innere wirkte wie ein Museum, dessen Ausstellung längst über seine Räumlichkeiten hinausgewachsen war – das erfreuliche Resultat der Sammelwut seiner Frau Megan, wie Zach sagte. Überall waren die Regale bis obenhin vollgestopft mit Inuit-Schnitzereien, Stickereien, Perlen- und Pelzarbeiten. Auf den unteren Borden reihten sich kunstvolle russische Puppen und mit akribischer Sorgfalt bemalte Holzschnitzereien, und auf dem Fußboden türmten sich Bücherstapel.
Zach war ein Inupiaq, er stammte ursprünglich von der Kleinen Diomedes-Insel in der Beringstraße. Seine Frau war auf der Schwesterinsel geboren, der Großen Diomedes-Insel, nur vier Kilometer entfernt und doch in einer ganz anderen Welt. Damals, in den 1980 er Jahren, war die Kleine Diomedes-Insel Teil der Vereinigten Staaten, und die Große Diomedes-Insel gehörte zur Sowjetunion. Seit den fünfziger Jahren hatten die Amerikaner und die Sowjets auf ihrer jeweiligen Insel große, einschüchternde Militär-Stützpunkte errichtet und die Bewohner beider Inseln daran gehindert, sich gegenseitig zu besuchen. Über die folgenden vierzig Jahre sahen sich die Inupiaq als unfreiwillige Schachfiguren in diesem Spiel, in dem Familien auseinandergerissen oder entwurzelt wurden. Als die Grenzen nach Ende des Kalten Krieges in den neunziger Jahren geöffnet wurden, kamen viele Inupiaq-Familien wieder zusammen, sagte
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