Zeichen im Schnee
glaubte sie.
Etwa eine Stunde später war sie wieder auf der Straße. Tiefhängende Wolken hatten den Sonnenschein abgelöst, es war wärmer geworden, vielleicht sogar warm genug für Schnee. Sie zog ihren Parka aus Seehundfell aus, band ihn sich um die Taille, dann blieb sie stehen und schloss für einen Moment die Augen, atmete die frische Luft ein. Als sie die Augen wieder aufmachte, sah sie auf einer Bank auf der anderen Straßenseite eine junge Frau sitzen, die ihr irgendwie bekannt vorkam. Sie hatte die üppigen dunkelblonden Haare zu strammen Zöpfen geflochten und war hochschwanger. Ihr ungeschminktes, waches Mondgesicht war so blass wie ein Winterfuchs, aber unter den Augen hatte sie dunkelviolette Halbmonde. Edie überlegte, woher sie sie kannte, dann fiel es ihr ein. Sie hatte sich im Foyer des Kinos aufgehalten, als Edie hereinkam. Nach kurzem Blickkontakt hatte die junge Frau sich abgewandt, aber jetzt hatte Edie den starken Eindruck, dass die Frau mit ihr sprechen wollte.
Als Edie den Rand des Gehsteigs erreichte, wandte sie den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite, weil ihr einfiel, dass man in der Stadt auf den Verkehr achten musste. Ein Eiswagen brauste laut hupend vorbei, die Reifenketten rappelten über den mit Salz bestreuten Asphalt. Als er vorüber war, hatte die junge Frau die Bank auf dem gegenüberliegenden Gehsteig verlassen und ging die Straße hinunter. Edie rief «Hey!», aber die Frau setzte ihren Weg fort. Edie überquerte die Straße und konnte ihr einen Moment lang folgen, doch dann beschleunigte die andere ihre Schritte.
Wieder in ihrem Apartment, machte Edie sich süßen Tee und dachte über den Film und die junge Frau nach. Vielleicht hatte sie sich ja getäuscht – was die Frau anging, den Film, Geisterführer, alles. Aber der ganze Tag hatte sie irgendwie aus dem Lot gebracht. Sie fühlte sich orientierungslos, unsicher, wie in einem Traum gefangen, aus dem sie nicht erwachen konnte. Schließlich wählte sie Dereks Nummer in Nome. Die Mailbox sprang an. Sie sah auf die Uhr.
«Polizist, ich bin’s.» Sie machte den Mund auf und wieder zu. «Weißt du was? Vergiss einfach, dass ich angerufen habe, okay?»
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6
Derek Palliser ging an den Schreiberlingen vorbei, die in dicht gedrängten Reihen in ihre Laptops tippten, und betrat die Iditarod-Zentrale. Er atmete die abgestandene Luft ein, die nach Putzmitteln roch, wie in allen Hotel-Konferenzräumen. Es wimmelte von Menschen. Männer und Frauen umschwärmten die Bildschirme, auf denen die Positionen der Wettkampfteilnehmer präsentiert wurden.
Derek setzte sich an ein Terminal und gab Sammys Startnummer und ein Passwort ein. Sogleich erschien eine Karte der Rennstrecke mit seinem Standort und seiner durchschnittlichen Geschwindigkeit – 6 , 23 Kilometer pro Stunde – sowie Uhrzeit und Minutenzahl seiner Stopps an jedem Kontrollpunkt. Ein Pop-up-Fenster zeigte die meteorologischen Daten seines augenblicklichen Standortes.
Derek schloss das Fenster. So nützlich die Statistiken an und für sich auch sein mochten, sie sagten nichts darüber aus, wie es wirklich war, an dem Rennen teilzunehmen. Derek fragte sich, ob Sammys Erleben durch das Wissen, dass seine Spur auf Schritt und Tritt verfolgt wurde, irgendwie geschmälert wurde. Bei ihm selbst wäre es so, dachte Derek. Zu den Freuden der Frühjahrspatrouillen, die zu seinen Pflichten als Polizeisergeant und oberster Naturschutzbeauftragter der Insel Ellesmere gehörten, zählte das befreiende Gefühl, tagelang ohne jeden Kontakt zu irgendjemandem zu sein. Wenn ihn die zumeist geringfügigen Anforderungen der Kleinstadt-Polizeiarbeit plagten, konnte er sich in die Tage und Nächte zurückversetzen, die er in den entferntesten Winkeln seines Einsatzgebietes verbracht hatte, und die intensive Wirkung des Alleinseins in der Natur noch einmal erleben.
Er stand auf und ging zur Kaffeemaschine. Aileen Logan, die Rennleiterin, trat blinzelnd neben ihn. Er nahm den Becher von der Maschine und reichte ihn ihr. «Ich nehme an, Sie brauchen ihn im Moment dringender als ich.»
Lächelnd nahm sie den Becher entgegen. «Ach, es ist zum Verrücktwerden. Wir haben ein japanisches Filmteam hier, dessen Dolmetscher krank geworden ist.» Sie trank einen Schluck Kaffee und wirkte einen Moment beschwichtigt, dann fragte sie trübsinnig: «Ich nehme nicht an, dass Sie hier in der Nähe jemanden kennen, der einigermaßen Japanisch spricht?»
Sie blickte auf Dereks
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