Zeichen im Schnee
wusste, dass der alte Hund vermutlich nicht mehr viele Rennen laufen konnte. Sobald er langsam wurde, würde sie ihn gehen lassen müssen. Sie lachte leise über diesen Euphemismus. Das war so eine
qalunaat
-Gepflogenheit. Vielleicht hatte sie den Ausdruck früher mal von Peter aufgeschnappt, ihrem
qalunaat
-Vater. In Wirklichkeit würde es so ablaufen, dass sie, sobald Holzkopf nicht mehr imstande war, sich am Schlitten ins Zeug zu legen, keine andere Wahl haben würde, als ihn zu erschießen.
Ein Buschpilot hatte angeboten, den Hund am Nachmittag zusammen mit Vorräten nach Anchorage zu fliegen. Jemand von der Rennleitung würde ihn direkt vom Flughafen zur Frauenvollzugsanstalt bringen. Edie würde ihn dort abholen müssen, wann sie konnte, aber das hatte keine Eile. Man konnte ihn ein, zwei Tage dortbehalten.
«Magst du nicht für ein paar Tage nach Nome kommen und dich mit den Rennleuten treffen?»
«Danke», sagte sie, «aber ich hab zu tun.»
«Was, zum Beispiel?»
«Holzkopf abholen zum Beispiel.»
«Hast du gehört, was ich gesagt habe? Sie behalten den Hund da.» Schweigen. «Edie, sag, du verstrickst dich doch nicht weiter in den Fall von dem toten Baby?»
Sie spürte plötzlich einen Stich, war verärgert und gekränkt, das Gefühl, von jemandem abgeschmettert zu werden, der es vorzog, die Augen zu verschließen. «Findest du nicht, dass es zu spät ist, mich das zu fragen?» Ihre Stimme klang angespannt und zornig. Und wenn schon, es drückte genau aus, was sie empfand. «Stell dir mal vor, wie ich das Baby gefunden habe und alles. Hast du das etwa schon vergessen?»
Er seufzte, sagte aber nichts. Es gab nichts mehr zu sagen.
Sie saß eine Weile in ihrem Apartment und starrte ins Weite, dann befand sie, dass sie so nicht vorankam. Die niedrige Zimmerdecke, die billige, nichtssagende Einrichtung und die ständigen surrenden Geräusche aus den Nachbarwohnungen hatten etwas Deprimierendes. Sie spürte ein dringendes Bedürfnis nach sofortiger Ablenkung.
Ihr fiel die Anzeige für ein Stummfilmfestival ein, die sie im
Anchorage Courier
gelesen hatte, und sie ging hinaus und folgte der J Street bis zum Kino in der Innenstadt. An der Kasse schob sie einen Zehndollarschein durch den Schlitz und verlangte eine Karte für Erwachsene. Die Kassiererin, eine junge Frau mit gepiercter Zunge, gab ihr die Eintrittskarte und wies dann in einen dunklen Flur.
«Kino zwei.»
Der Saal war leer bis auf drei, vier Personen, und sie merkte, dass sie in ihrer Zerstreutheit vergessen hatte zu fragen, welcher Film gezeigt wurde, doch da ging das Licht aus, und es war warm, also machte sie es sich bequem.
Edies Erfahrung mit Filmen war ungewöhnlich, selbst für ein Mädchen, das auf der nördlichsten Landmasse des Planeten aufgewachsen war. In früheren Jahren hatte Peter, ihr Vater, im damals winzigen Gemeindezentrum von Autisaq einen Filmclub gegründet. Das war gewesen, bevor es Video und DVD gegeben hatte, als die Filme in Blechdosen ankamen und mit Projektoren abgespielt werden mussten. Sie wusste nicht, wie ihr Vater an die Filme kam, nur dass er als
qalunaat
, als Weißer, Zugang zu derlei Sachen hatte. Die Filme, die er zeigte, waren ausnahmslos klassische Stummfilmkomödien. Ob das seinen Geschmack widerspiegelte oder einfach nur das war, was er ergattern konnte, wusste sie nicht.
Einmal im Monat kamen alle Dorfbewohner, die nicht auf der Jagd waren, mit ihrem Becher, nahmen sich süßen Tee und ein paar hartgekochte Schneegänseeier und suchten sich einen Platz auf den Karibufellen auf dem Boden; die Kinder hockten mit verzückten Mienen bei ihren Eltern auf dem Schoß. Eine von Edies wenigen Erinnerungen an ihren Vater war, wie sie geborgen auf seinem Schoß saß, den Geschmack von Zucker im Mund, begeistert von den flimmernden Bildern auf der Leinwand. Wenn sie heutzutage Lust auf Gesellschaft hatte, musste sie nur einen Film mit Harold Lloyd oder Charlie Chaplin in ihren DVD -Player schieben, und die goldenen Augenblicke ihrer Kindheit kamen zurück.
Auf der Leinwand erschien der Titel.
Charlie Chaplin in
The Kid
.
Blitzartig schoss ein Schrecken in ihr hoch, setzte sich in ihre Brust und wand sich ihr Herz hinauf wie der Schlüssel, mit dem man eine Spieluhr aufzog. Es konnte doch unmöglich Zufall sein, dass genau der Film gezeigt wurde, den sie sich zu sehen gewünscht hatte, die Geschichte von einem ausgesetzten Baby und seiner verzweifelten Mutter? Die Geister schickten Botschaften, daran
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