Zeichen im Schnee
schon wusste. Natalia war eine Altgläubige. Edie gingen Dinge durch den Kopf, die sie im Internet aufgeschnappt hatte, unheimliche Schilderungen von Ritualen der Finstergläubigen. Instinktiv tastete sie nach dem Jagdmesser, das sie immer in der Tasche ihres Parkas trug. Etwas in ihr rief «Abhauen!». Sie dachte daran, ins Haus zu flitzen, doch sie hatte keine Ahnung, wer in dem Auto sein mochte und ob sie Waffen bei sich trugen. Sie war Zeugin in einem Mordfall, und jetzt forderten diejenigen, die Detective Truro für den Mord verantwortlich machte, sie auf, in ihren Wagen zu steigen.
Natalia trat wieder von einem Fuß auf den anderen.
«Bitte, wir brauchen Ihre Hilfe», sagte sie und streichelte ihren Bauch.
Edie sah ihr in die Augen, doch das Gesicht war jetzt vollkommen ausdruckslos, blank wie Neueis. Sie dachte:
Ich schulde diesen Leuten nichts. Weniger als nichts.
Sie waren ja nicht mal so nett gewesen, sie zu ihrem Schneemobil zu bringen, als sie sich im Wald verirrt hatte. Dann dachte sie an die verrückte TaniaLee und ihren kleinen Lucas, den man grotesk verrenkt im Wald abgelegt hatte, und sie erkannte, dass es hier nicht darum ging, was sie den Altgläubigen schuldete oder nicht, ja, dass es überhaupt nicht um diese Leute ging. Sie überlegte, was Derek sagen, was für einen Wirbel er machen würde. Vor allem aber dachte sie an Sammy und daran, dass sie ihn vernachlässigen würde, wenn sie sich auf diese Sache einließ. Sie sollte sich jetzt ganz auf ihn konzentrieren. Andererseits hielt sich das, was sie wirklich für ihn tun konnte, in Grenzen. Sie hatte Holzkopf abgeholt, ansonsten stand im Moment nichts Unerledigtes an. Zudem wollte sie nicht diejenige sein, die Lucas Littlefish im Stich ließ. Diese Lektion hatte sie schon gelernt. Wenn sie Joe nicht mit einem Mann hätte ziehen lassen, von dem sie wusste, dass er verantwortungslos und ein Säufer war, wäre er jetzt vielleicht nicht tot. Sie könnte nicht damit leben, noch einmal ein Kind im Stich gelassen zu haben. Das würde auch Sammy nicht wollen. Es war nun einmal so, dachte sie, dass es keine Verbindung gab, die sie mehr schätzte als die Treue zu den sprachlosen Toten.
Sie fragte: «Woher wussten Sie, wo Sie mich finden würden?»
Natalia atmete tief durch und sah weg.
«Okay», sagte Edie schließlich zögerlich. «Aber der Hund kommt mit.»
Auf dem Fahrersitz des Wagens wartete ein Mann, und als sie näher kamen, hielt er die Beifahrertür auf. Natalia stellte ihn als ihren Vater vor, Anatol Medwedew, und bedeutete Edie, sich nach vorne zu setzen.
«Ich sitze lieber hinten beim Hund», sagte Edie. Sie war froh, dass Holzkopf nicht mehr knurrte. Das Tier war darauf abgerichtet, Eisbären zu wittern, und nahm Angst und Gefahr gleichermaßen wahr. Im Moment witterte er nichts davon.
Natalia nickte und stieg vorne ein. Der Wagen fädelte sich in den Verkehrsstrom auf der N Street nordwärts in Richtung Glenn Highway ein. Edie betrachtete den chauffierenden Medwedew im Rückspiegel. Sein Alter war schwer zu schätzen. Seine Haare hatten die Farbe von zweijährigem Schnee, grauweiß gesprenkelt. Am Oberkopf waren sie kurz geschnitten, aber die Koteletten waren lang und ungepflegt und gingen in einen Wallebart über, wie er Edies Vorstellung nach den alten viktorianischen Forschern gewachsen war, während sie in der Arktis überwinterten. Das Leben im Nordwind hatte seiner Haut eine raue, nahezu reptilienhafte Kruste verliehen. Die Augen waren von verstörender Farbe, neueisbergblau mit milchigen Einschlüssen. Immer mal wieder fiel sein Blick in den Rückspiegel. Entweder gehörte er zu den seltenen Menschen, die von einer übernatürlichen Ruhe beseelt waren, oder er war ein Psychopath.
Sie fuhren aus der Stadt und bogen dann in eine einspurige Straße, die laut Wegweiser zum Hatcher Pass führte. Hier, wo die Schneepflüge, die die Hauptstraße frei hielten, nicht hinkamen, war das Eis kompakt und tückisch. Medwedew schaltete auf Allradantrieb, trotzdem rutschten und schlitterten sie. Bald war die Straße vor ihnen von Bäumen beschattet; sie kamen zu der Kurve, in der Edie den Geisterbären gesehen hatte, und kurz darauf waren sie nicht weit von der Stelle entfernt, wo sie aus dem Wald gekommen war, nachdem sie Lucas Littlefish gefunden hatte. Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Paar auf dem Schneemobil, das aus dem Dunkel der Bäume aufgetaucht war. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Mann, großgewachsen und eiskalt, und
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