Zeichen im Schnee
Fonseca ihr Freund war, warum hatte die Polizei ihn dann nicht zur Vernehmung vorgeladen? Aber vielleicht hatte sie es ja getan. Edie fragte sich, ob Fonseca TaniaLees Name für den Mann auf dem Schneemobil war, den die Polizei verdächtigte. Aber wenn er etwas mit Lucas’ Tod zu tun hatte, warum sollte er dann zu TaniaLee gesagt haben, dass die Altgläubigen ihn ihr weggenommen hatten, womit er sich selbst schwer belastete? Und obwohl TaniaLees Geschichte die von Detective Truro favorisierte Version der Ereignisse zu erhärten schien, warf ihre Version ebenfalls Fragen auf. Dieser Teufelsanbeter-Aspekt mutete irgendwie zu pathetisch an, und die Art, wie sie das vorgebracht hatte, wirkte eingeübt. Edie dachte an die Webseiten der Finstergläubigen. Wenn der Junge in einem satanischen Ritus geopfert worden war, warum hatte man seinen Leichnam dann an einem Ort abgelegt, an dem er früher oder später gefunden werden musste? Aufgrund der fehlenden Fußabdrücke im Schnee und der Höhe der Schneedecke auf dem Dach des Geisterhauses war Edie sich absolut sicher, dass das Paar auf dem Gefährt den Jungen nicht dort abgelegt hatte, zumindest nicht an dem Morgen, an dem sie auf den Leichnam gestoßen war. Warum glaubte Detective Truro dann aber, dass sie es gewesen waren? Die gebrochenen Eiskristalle auf der Leiche erzählten eine Geschichte – nur was für eine, das wusste Edie noch nicht.
Plötzlich wurde es lichter. Ohne es zu merken, war sie eine Anhöhe hinaufgestiegen, auf der die Bäume einer niedrigen Küstenklippe wichen. Dort blieb sie eine Weile stehen, mit dem Gesicht zur Stadt, und betrachtete die Wolken, die zwischen schmuddeligen, mit den Namen von Ölkonzernen verzierten Wolkenkratzern dahinzogen, deren Rückseiten auf die schimmernde Eisdecke der Cook-Inlet-Bucht hinaussahen. Klein und unwirtlich wirkte die Stadt, als wären die Häuser planlos am Ufer verstreut worden. Edie pfiff Holzkopf zu sich und machte sich auf den Rückweg. Als sie von weitem auf das Häusermeer blickte, ging ihr auf, dass Anchorage trotz seiner Aufgeblasenheit, seines Glasglanzes und Gefunkels, seiner betonierten Gehsteige und beheizten Garagen im Grunde nicht anders war als Autisaq oder irgendeines der ihr vertrauten Dörfchen – Menschensiedlungen, welche ihrer Umgebung, die sie ständig zu verschlucken drohte, hoffnungslos unterlegen waren. Der einzige richtige Unterschied, das sah sie jetzt, lag darin, dass Anchorage mit sich selbst die Abmachung getroffen hatte, das Offensichtliche zu ignorieren. Edie vermutete, dass manche Leute sich von dieser Aura der Unerschütterlichkeit täuschen ließen, und war froh, nicht zu ihnen zu gehören.
Als sie ihre Straßenecke erreichte, stockte ihr der Atem, denn zu ihrer Überraschung erblickte sie die junge Frau mit dem langen Mantel und den Zöpfen, die sie vor dem Kino gesehen hatte. Als Edie näher kam, wich die Frau ein bisschen zurück, die Hand auf dem Bauch, ihr ungeborenes Kleines vor dem Hund beschützend, woraufhin Edie Holzkopf am Halsband nahm und bei Fuß zerrte. Die junge Frau bedankte sich mit einem zaghaften Lächeln. Sie sah zierlicher aus, als Edie sie in Erinnerung hatte, ihr Teint war fahler, und sie hatte dunkle, ungesunde Ringe unter den Augen.
Edie sagte: «Wenn ich Sie einlade, sich ein paar Minuten aufzuwärmen, werden Sie dann aufhören, mich zu verfolgen?»
Die junge Frau trat nervös von einem Fuß auf den anderen, außerstande, Edie in die Augen zu sehen, und ohne auch nur einen Schritt auf das Apartmenthaus zu zu machen.
«Ich heiße Natalia.» Sie hatte einen amerikanischen Akzent mit noch einem anderen Einschlag, russisch womöglich. Sie wies kurz mit dem Kopf auf einen schwarzen Geländewagen mit getönten Scheiben, der auf der anderen Straßenseite parkte.
«Bitte kommen Sie mit uns.»
Edie zuckte zusammen. Sie sah zu dem Auto hinüber, dann zu Natalia. Die Frau hatte ernstzunehmende Rückendeckung. Mit so etwas hatte sie weiß Gott nicht gerechnet.
«Sind Sie verrückt? Ich kenne Sie doch gar nicht.» Ihre Stimme klang abweisender als beabsichtigt. Holzkopf neben ihr spürte die Spannung und fing an zu knurren.
«Sie wissen, was ich bin», sagte Natalia schlicht.
Ja, das wusste Edie. Hätte die Kleidung der jungen Frau es nicht verraten – die altväterliche Frisur und ihr eigenartiges manieriertes Verhalten sprachen für sich. Edie hatte es gewusst, als sie sie das erste Mal sah, und die jetzige Begegnung bestätigte nur, was sie ohnehin
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