Zeichen im Schnee
professionelle Einschätzung bitten.»
«Ich werd tun, was ich kann.»
«Könnte jemand in Terris Zustand dem eigenen Kind etwas antun?»
Die Pflegerin sah sich prüfend um, ob niemand von den Patienten in der Nähe der Tür war, dann zog sie die Schlüsselkarte über den Scanner.
«Alle möglichen Menschen in allen möglichen Zuständen sind imstande, ihren Kindern was anzutun, Officer Gomez», sagte sie.
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10
Von der Green-Shoots-Klinik ließ Edie sich zur Frauenjustizvollzugsanstalt bringen. Sie bezahlte das Taxi, ging zum Besucherschalter und erklärte den Zweck ihres Besuches. Eine Beamtin nahm ihre Daten auf und bat sie zu warten. Das Wartezimmer war ein fensterloses Kabuff, gurkengrün gestrichen und gespickt mit Plakaten, die über Rechte der Gefangenen, Sicherheitsmaßnahmen und dergleichen aufklärten. In einer Ecke las eine Frau im dezenten Kostüm in irgendwelchen Papieren. An der Wand gegenüber surrte ein Getränkeautomat.
Edie versuchte, während der Wartezeit konzentriert über ihren Besuch bei TaniaLee nachzudenken, aber die Atmosphäre, zuerst im Sicherheitsbereich und jetzt hier im Kittchen, brachte ihre Gedanken durcheinander. Sie vermutete, dass so gut wie allen Menschen davor graute, eingesperrt zu sein, aber das Grauen der Inuit war mit Sicherheit noch größer. Alle Inuit, die sie kannte, würden lieber sterben, als auch nur eine Nacht hinter Gittern zu verbringen. Zum Teil, dachte Edie, lag das daran, dass sie ihr Leben überwiegend in einem Gebiet zubrachten, das ohne Grenzen war. Zum Teil lag es auch daran, dass sie gezwungen waren, ein Gesetz zu befolgen, das auf Prinzipien beruhte, die für sie oft unbegreiflich waren. Es war nicht so, dass sie das Gesetz brechen wollten, vielmehr hatten sie das Gefühl, dass das Gesetz von vornherein nicht für sie bestimmt war.
Hier saß sie nun und wartete, um einen Hund abzuholen, der ihr gehörte. Aber was hieß das eigentlich? Holzkopf war nicht ihr Eigentum. Wenn er in der Tundra umherstreifen, seinen eigenen Weg gehen wollte, stand ihm dies jederzeit frei. Menschen besaßen Tiere oder Dinge nicht. Gegenstände gehörten ihren Geistern, und das auch nur, solange es den Geistern gefiel, sie zu bewohnen. Felsen, Land, See – nichts davon konnten die Bewohner der sichtbaren Welt auf Dauer behalten, weil sie selbst vergänglich waren. Freilich, wenn man sich beispielsweise die Mühe machte, eine Robbe zu harpunieren oder abzuhäuten, dann stand es einem gerechterweise zu, von ihr Gebrauch zu machen – aber zu sagen, dass sie einem gehörte, das war lächerlich.
Die Tür ging auf, und Holzkopf kam durch den Spalt gestürmt. Hinter ihm erschien keuchend eine rotgesichtige Wärterin, die Fingerknöchel weiß vor Anstrengung. Es schien ihr gerade so zu gelingen, die Leine festzuhalten.
«Mannomann», sagte die Wärterin, froh, die Verantwortung los zu sein. «Das Tier ist eine Rakete. Diesen Hund könnte man für die Weltraumforschung einsetzen. Er würde es glatt bis zum Jupiter schaffen.»
Edie rümpfte die Nase. «Nur würde es da dann überall nach Hundefürzen riechen.»
«Da haben Sie recht», sagte die Wärterin betrübt. «Schade.»
Edie führte den Hund nach draußen, streichelte ihn, machte die Leine ab und untersuchte seine Pfote. Er hinkte kaum; der Tierarzt hatte die Wunde verbunden und ihm einen gepolsterten Pfotenschuh übergezogen, ohne dass Holzkopf sich hätte anmerken lassen, dass er Schmerzen hatte. Der Verkehr brauste vorbei, ein durchdringender Dieselgeruch lag in der Luft. Als Edie über das vereiste Pflaster ging, zitterte sie vor Erleichterung, dass sie den Ort, den sie soeben verlassen hatte, nie wieder würde aufsuchen müssen.
Sie dachte:
Ich bräuchte einen Ort, an dem ich nachdenken kann
. Und der Hund musste seine aufgestaute Energie abreagieren. Am Ufer der Cook-Inlet-Bucht schlängelte sich ein Weg zwischen Bäumen hindurch, und dorthin ging sie jetzt. Sie traten durch ein Tor und waren sogleich von Wald umgeben; nur noch ein schwacher Hauch von Knoblauch, Treibstoff und Verkehrsgeräuschen erinnerte an die Großstadt. Der Hund tollte voraus, drehte im Schnee ein paar Runden. Edies Gedanken kehrten zu der Begegnung mit TaniaLee zurück. Das Mädchen war sehr krank. Nichts, was sie sagte, konnte für bare Münze genommen werden. Was aber nicht hieß, dass nichts davon wahr war. Sie hatte behauptet, mit Fonseca verheiratet zu sein, doch sie war zu jung, um verheiratet zu sein. Wenn
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