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Zeichen im Schnee

Zeichen im Schnee

Titel: Zeichen im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie McGrath
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durchstand. Und er wollte unbedingt dabei sein, wenn Sammy und sein Gespann über die Ziellinie fuhren. Darin, Sammy zu demoralisieren, indem er ihm ausgerechnet jetzt die Wahrheit sagte, sah er absolut keinen Sinn.
    «Ist sie da? Edie, meine ich.»
    «Ah, nee, sie ist in Anchorage, wie wir vereinbart hatten», hörte er sich sagen. Ihm war klar, dass er ausweichend antwortete, er hatte aber kaum eine andere Wahl. Ein Haufen Sorgen war das Letzte, was Sammy jetzt gebrauchen konnte. «Aber hey», fügte er hinzu, in ermutigendem Ton, wie er hoffte, «wir sind beide total begeistert. Du machst das richtig super. Meinst du, du schaffst es innerhalb von zwei Wochen?»
    «Denke schon», sagte Sammy. Er machte eine kleine Pause, als wartete er, dass Derek etwas hinzufügte, dann sagte er: «Okay, also, ich mach mich wohl besser wieder auf den Weg.»
    Derek wünschte ihm eine gute Schlittenfahrt. Kaum hatten sie das Gespräch beendet, bedauerte er, seinen Freund getäuscht zu haben, und wünschte, sie könnten das Gespräch noch einmal führen. Sammy hatte achthundert Kilometer durch eines der rauesten Gebiete der Erde zurückgelegt, mit nichts als einem Rennschlitten, einem kleinen Packen Vorräte und sechzehn – jetzt fünfzehn – Hunden als Gesellschaft. Er war Tag und Nacht unterwegs gewesen, hatte aufrecht auf dem Schlitten geschlafen, wenn er überhaupt Schlaf bekam, hatte in fliegender Eile gegessen – sein ganzes Dasein konzentrierte sich auf den schmalen, vereisten Pfad. Solange es keinen Notfall geben würde, war das Gespräch, das sie eben geführt hatten, wohl die letzte Gelegenheit gewesen, direkt mit Sammy in Kontakt zu treten, bis er zum Kontrollpunkt Safety Roadhouse wenige Kilometer außerhalb von Nome kam. Von jetzt an würden Derek und Edie sich mit den Aufzeichnungen seines GPS -Peilsenders begnügen müssen, und mit dem, was die Aufseher an den diversen Kontrollpunkten ihnen per E-Mail mitteilten.
    Nach Beendigung des Gesprächs machte Derek sich auf den Weg zu Zach Barefoots Haus. Oben an der namenlosen Straße, wo das Chukchi-Motel stand, blieb er stehen. Es war noch nicht dunkel, und es würde auch noch ein paar Stunden lang hell sein, doch das Motel-Schild war erleuchtet. Während er dort stand, kam ein großer Mann mit länglichem, spitzem Gesicht aus dem Motel, ging die Treppenstufen hinunter, bestieg ein Schneemobil und sauste davon. Kurz danach ging das Motel-Licht aus. Derek dachte an die junge Frau im Wald unweit des Meadow-Sees, die шаҳта,
meins
, in den Schnee auf der Windschutzscheibe geritzt hatte. Dann wappnete er sich und ging auf das unbeleuchtete Schild zu.
    An der Rezeption war ein alter zahnloser Inupiaq, der mit einem Messer an einem Stück Walross-Elfenbein herumschnitzte.
    «Ich hätte gern ein Zimmer», sagte Derek.
    Der Mann sah ihn an. Er hatte die typische Tundra-Haut: dick, braun und krumpelig wie Sumpfmoos. Seine Augen waren vom grauen Star wässrig. An der Art, wie die Augen durch ihn hindurchblinzelten, erkannte Derek, dass der Alte nicht viel sehen konnte.
    «Wir sind ausgebucht.»
    Derek ließ sich nicht beirren und wiederholte seinen Wunsch. Der Alte nickte.
    «Da müssen Sie um neun wiederkommen», sagte er, «oder vielleicht um zehn.»
    Derek nahm das Stück Walross-Elfenbein in die Hand.
    «Sehen Sie schlecht, oder werden Sie fürs Weggucken bezahlt?»
    «Ich hab alles gesehen, was ich auf dieser Welt gesehen haben muss», sagte der alte Mann und nahm Derek seine Schnitzerei wieder ab.
    ***
    Zachs Haustür stand offen. Derek rief hinein, und ein Frauenkopf lugte um die Ecke eines Schlafzimmers. Von den herumliegenden Fotos erkannte er Megan Barefoot, und es erschütterte ihn zutiefst, ja, er war so erschüttert, wie er es sein Lebtag noch nie gewesen war, weil sie Edie so ähnlich sah. Dieselbe hohe Stirn, dieselben Augenbrauen, und sie strahlte dieselbe kaum gezügelte Energie aus. Sie hielt einen Finger an den Mund, und es sah aus, als sei sie eben erst aufgewacht.
    «Zoe schläft.»
    Derek stellte sich im Flüsterton vor. Megan lächelte und sagte, Zach habe ihr schon alles über ihn erzählt. Er dachte an das Baby nebenan und an das Kind in Anchorage, und seine Schläfe begann zu pulsieren.
    Er hatte es geschafft, in Alaska bis hierher zu kommen, ohne zu sehr an sein Kind zu denken. Verdrängung, würde Edie Kiglatuk sagen, wenn sie denn wüsste, dass er ein Kind hatte. Er behielt es für sich, wollte nicht, dass sie es erfuhr. Wie lange hatte er Serena

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