Zeichen im Schnee
nicht mehr gesehen? Fast vier Jahre. Sie dürfte jetzt fünf sein. Ihre Mutter hielt die Erinnerung an ihn bestimmt nicht wach. Sie war zumindest mit ein Grund, weshalb er keinen Kontakt gehalten hatte und weshalb er nicht darüber sprach. Die Frau hatte es zu schwierig gemacht, zu schmerzhaft, zu kostspielig. Doch war das eigentlich keine Entschuldigung, das war ihm klar. Er hatte in der Polizeistation in Kuujuaq eine Satellitenverbindung zum Internet. Sie bestand schon seit fast zwei Jahren. Verdammt, er wusste nicht mal, wo Serena und ihre Mutter zurzeit wohnten. Er hätte sie aufspüren, sich von der Frau allen möglichen Scheiß erzählen lassen und sie bitten können, Serena sehen zu dürfen. Er hätte ihr als Gegenleistung regelmäßige Geldzahlungen anbieten können. Verdammt, er könnte in diesem Moment mit seiner kleinen Tochter skypen. Stattdessen wusste er nicht mal, wie sie aussah.
Die Tür flog auf, und Zach kam herein, in jeder Hand ein Sixpack Bier. Als er Megan sah, erstrahlte sein Gesicht wie ein Eiskristall in der Sonne. Er stellte das Bier ab und nahm seine Frau in die Arme. Hand in Hand schlichen sie in das Zimmer, in dem das Baby schlief.
Derek ging zum Sofa und ploppte ein Bier auf. Nach einer Weile – er wusste nicht, wie lange – kam Zach allein wieder ins Wohnzimmer. Sein Gesicht leuchtete von dieser Art Liebe, von der man nie genug bekam, während man unaufhörlich wünschte, man bekäme genug. Er bemerkte die geöffnete Bierdose. «Der Mann verliert keine Zeit», sagte er freundschaftlich. Er holte sich selbst ein Bier, setzte sich aufs Sofa und hielt seine Dose hoch. «Auf dein Stilgefühl.»
Derek lachte leise und hoffte, dass es nicht zu bitter klang. Wenn doch, bemerkte Zach es nicht.
«Sie sehen so süß aus, wie sie da zusammen liegen, tief schlafend», sagte er. Er stürzte sein Bier hinunter, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und seufzte zufrieden.
«Das glaube ich.» Derek biss sich fest auf den Daumennagel. «Zach, hast du heute Abend gegen zehn Zeit?»
Neugierig geworden, setzte Zach sich aufrecht hin, griff nach dem nächsten Bier und fragte: «Warum, hast du was vor?»
«Ja.»
Zach stellte seine Dose hin. «Soll ich aufs nächste Bier verzichten?»
Derek schlug ihm grinsend auf die Schulter.
«Nein, Sir», sagte er, «wir brauchen alles Bier, das wir kriegen können.»
***
Achthundert Kilometer entfernt trafen sich Edie Kiglatuk und Aileen Logan östlich der Stadtmitte von Anchorage in einer Kneipe namens
Klondyke
. Aileen hatte Edie tagsüber angerufen und ihr ein Treffen vorgeschlagen, weil sie Näheres darüber erfahren wollte, wie die Leute in Autisaq ihre Schlittenhunde trainierten. Das Lokal war ein muffiger Raum mit niedriger Decke und trüber Beleuchtung, die eher billig als intim anmutete. Die Wände zierten lebensgroße Frauenporträts. Tatsächlich war hier alles voller Frauen.
Eine Bardame mit gut gemachten Gesichtspiercings kam zu ihnen, begrüßte Aileen mit Namen und fragte, was sie trinken wollten. Der Clou war der zweite Teil des Lokalnamens,
dyke
– Lesbe.
«Darf’s für Sie ein Jack Daniel’s sein?» Aileen lächelte Edie an.
«Ich dachte eher an eine Cola», erwiderte Edie. Sie war schon mehr als einmal rückfällig geworden und war nicht scharf drauf, das noch mal zu erleben.
Als die Bedienung gegangen war, fragte Aileen: «Und, wie lange sind Sie schon trocken?»
Edie runzelte die Stirn. Hatte Aileen sie nicht hierher gebeten, um über Schlittenhunde zu sprechen? «Hören Sie», sagte sie, «ich bin ein einfach gestrickter Mensch. Ich mag die Stars aus der Stummfilmzeit, ich mag Fleisch, und ich liebe meine Familie. Und ich mag gar nicht, wenn Menschen, die ich kaum kenne, mir persönliche Fragen stellen.»
Aileen hob in gespielter Kapitulation die Hände.
Sie gab einen spöttischen Pfiff von sich. «Ich gäb was drum, Sie mal richtig wütend zu sehen.» Hierauf brach sie in schallendes Gelächter aus.
Sie unterhielten sich eine Weile über das Iditarod-Rennen, zumeist im Plauderton. «Sie haben einen guten Mann im Rennen, Sammy, nicht wahr?», sagte Aileen. «Ich habe ihn am Start gesehen. Er hat Mumm.»
«In dem Gebiet, wo wir leben, wird der einem in die Wiege gelegt.»
«Raue Gegend dort auf Ellesmere, was? Ich nehme an, Alaska muss sich für Sie anfühlen wie der Süden.»
«Dies ist die südlichste Gegend, in der ich je war.»
Die Getränke kamen in Glaskrügen mit Zuckerrand. Aileen trank ihren in einem
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