Zeichen im Schnee
Zug fast leer. Die Frau konnte einiges an Bier in sich hineinschütten.
«Wir Alaskaner halten alles außerhalb des Staates für Ausland», sagte Aileen. «Wir können grob zu Ausländern sein.» Die Art, wie sie das sagte, ließ keinen Zweifel daran, dass damit eine Art Botschaft verbunden war.
«Ausländer können auch grob sein.» Ausländisch zu sein hatte nichts mit Geographie zu tun, dachte Edie, es ging um die geistige Landschaft.
«Wie Ihr Kumpel Sammy», sagte Aileen in scharfem Ton.
«Ja, wie Sammy.» Die zwei Frauen sahen einander an. In diesem Augenblick wurde klar, ohne dass es ausgesprochen werden musste, dass Aileen Edie eine freundschaftliche Warnung zukommen ließ, sich nicht weiter in die Untersuchungen der Todesfälle Lukas Littlefish und Jonny Doe einzumischen. Aber warum? Was hatte Aileen mit alledem zu tun?
Als die Frau sich entschuldigte und zur Toilette ging, eilte die Bedienung wieder herbei. Sie fragte: «Das erste Mal hier?», und als Edie nickte, fügte sie hinzu: «Gefällt Ihnen die Deko? Die meisten Gäste flippen fast aus, wenn sie die Deko sehen.»
«Ist mir schon aufgefallen.»
Als hätte sie es nicht gehört, fuhr die Bedienung fort: «Die Lady da» – sie zeigte auf das Wandbild einer kleinen Frau mit hoheitsvollem Gesichtsausdruck – «ist Alaska Nellie. Sie war klein, ungefähr einssechzig, aber eine große Jägerin. Schwer zu glauben, nicht?»
Edie, einssiebenundfünfzig groß, sagte: «Sehr schwer.»
Als die Bedienung gegangen war, ließ Edie ihre Gedanken zu den alten Zeiten schweifen. Die alten Zeiten! Wie unkompliziert war ihr damals alles erschienen. Wenn sie trinken oder essen oder auch ficken wollte, bekam sie es. Wenn der Geist – oder ihr Bauch – es ihr eingab, ging sie aufs Land hinaus und erlegte etwas. Es war damals so einfach gewesen, das Töten. Man zog mit einem Gewehr, einem
komatik
– einem Schlitten – und einem Dutzend Hunde los und kam mit Fleisch zurück. Sie hatte sich als jemand gesehen, der Tiere von ihren Leibern befreite, auf dass sie wiedergeboren werden konnten. Der Tötungsakt war ihr weniger vorgekommen, als nähme sie Leben, es war eher, als befreie sie eine Seele.
Heute schien es ihr kaum noch vorstellbar, dass sie die Dinge einmal so schwarz-weiß betrachtet hatte. Einfachheit war der Luxus der Jugend. Je älter man wurde, desto deutlicher erkannte man, dass nichts so einfach war. Nicht mal der Tod.
Schon gar nicht
der Tod.
Aileen kam zurück und setzte sich wieder auf ihren Platz.
Edie sah auf. «Was Sie vorhin gesagt haben – haben Sie einen Grund anzunehmen, ich könnte in Schwierigkeiten geraten?»
Aileen hob ruckartig die Arme hinter den Kopf. Es wirkte wie eine Geste absoluten Vertrauens. «Wie ich schon sagte, Edie. Wir können grob sein zu Ausländern.» Sie trank ihr Bier aus und bedeutete der Bedienung, ihr noch eins zu bringen. «Also, eure Huskys, ich muss schon sagen, Hut ab. Ihr züchtet verdammt gute Schlittenhunde. Sofern dies keine
persönliche Frage
ist – was ist euer Geheimnis?»
Edie zuckte die Achseln. «Wir sagen, entweder haben die Hunde dafür das richtige
ihuma
, Wesen, oder nicht. Genau wie bei Menschen.» Auch das hörte sich einfach an. Und doch machte
ihuma
selbst aus der simpelsten Handlung ein Labyrinth.
Aileen beugte sich lachend vor und legte die Hände auf den Tisch. Ihr Atem war feucht und roch nach Hopfen. Sie hatte diese Art Hände, die Katzenkinder töten konnten.
«Und was machen Sie mit den schlechten Hunden, Edie Kiglatuk? Denen mit dem falschen
ihuma
?»
Edie betrachtete Aileens Hände, dann sah sie ihr ins Gesicht.
«Aus denen machen wir Mützen.»
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22
Derek Palliser schlich im Chukchi-Motel die Treppe hinauf, Megan Avuluqs Glock 22 im Anschlag. Auf dem Treppenabsatz angekommen, spürte er, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Mit der freien Hand hielt er sich am Geländer fest. Er sammelte sich, drehte sich nach Zach um, der ermutigend die Augenbrauen hochzog, und ging den Flur entlang. Was sie vorhatten, war höchstwahrscheinlich unklug. Ungesetzlich sowieso. Obendrein waren sie betrunken. Theoretisch stand es ihnen noch frei, die Treppe sofort wieder hinunterzugehen, ein paar Stunden zu schlafen und das Ganze am Morgen vernünftig zu durchdenken. Aber wen kümmerte schon die Scheiß-Theorie?
Zach hatte selbst seine Gründe, tätig zu werden, Gründe, die er ihm bei mehreren Bieren dargelegt hatte. Ende der neunziger Jahre, gleich nach der
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