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Zeichen im Schnee

Zeichen im Schnee

Titel: Zeichen im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie McGrath
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ihrer eigenen Sprache zu ihm. Sie fand es respektvoller. Irgendwo über ihr schrie eine Eule. Erschrocken leuchtete Edie mit der Taschenlampe nach oben ins Geäst und sah zwei runde Augen aus hellen Federn leuchten. Der Vogel verstummte. Plötzlich nahm Edie andere Geräusche wahr: das Rascheln des Windes in den Zweigen der Bäume, das erstickte Bellen eines nahen Fuchses und weiter entfernt das schwache Heulen eines Wolfes. Dann flog die Eule auf, das Schwirren ihrer Schwingen war wie Todesröcheln.
    Edie wandte sich wieder dem toten Jungen im Schnee zu. «Was dir zugestoßen ist, Lucas, war unrecht. Und es gibt Leute, die immer noch nicht die Wahrheit darüber sagen, und das macht das Unrecht noch schlimmer. Ich werde mein Bestes tun, um herauszufinden, was passiert ist, Kind. Ich tu es für dich, und ich tu es für mich.
Tukisivit?
» Sein Geist würde es verstehen.
    Sie zog den Parka enger um sich. Der belebte nächtliche Wald, das Gefühl, von Geschöpfen beobachtet zu werden, die sie nicht einmal benennen konnte, waren ihr ein bisschen unheimlich.
    Sie fing an, den Schnee von dem Haus zu wischen, zuerst vorsichtig, dann dringlicher. Nach und nach kam das kleine Haus unter seiner Winterdecke zum Vorschein. Es sah jetzt anheimelnder aus. Sie schwenkte die Taschenlampe über die Außenwände, und es tat ihr irgendwie wohl, dass der Junge nicht unter der Erde lag. Das Tuch war von beiden Seiten gut sichtbar. Oberhalb der Stelle, wo die Tür hätte sein können, bemerkte sie ein kleines gemaltes Kreuz der regulären orthodoxen Kirche, eines, wie der Priester es ihr nach Lucas’ Begräbnis gezeigt hatte, dasselbe Kreuz, das mit Fett auf Lucas’ Leichnam geschmiert worden war. Das Kreuz, das von den Altgläubigen seit vierhundert Jahren nicht mehr verwendet wurde.
    Sie stand auf und stieß frustriert die Luft durch die Nase aus. An Lucas Littlefishs Grabstätte war nichts Auffälliges, es gab keine Hinweise, Botschaften oder Zeichen. Sie ging zum Wagen zurück, startete den Motor. Während sie sich auf dem Friedhof aufgehalten hatte, war eine dicke Wolke herangezogen, die nun das Mondlicht verdeckte. Es war stockdunkel, eine Dunkelheit, wie sie selten über Autisaq hereinbrach, wo Meereis und Gletscher noch das geringste bisschen Licht reflektierten, das der Himmel herabsandte. Als sie auf halber Strecke um eine Ecke bog, sah sie in der Ferne ein schwaches flackerndes Licht, das allmählich heller wurde und Farbe annahm.
    Blau.
    In ihrer Brust flatterte eine Eule. Edie stieg kräftig auf die Bremse, sie hatte einen metallischen Geschmack im Mund, weil sie sich auf die Lippe gebissen hatte. Das Licht glitt über die Windschutzscheibe. Sie musste an Aileens Warnung denken, fröstelte und geriet in Panik. Die Naturgewalten, Eis, das Toben der Winde, ein rauer Seegang, ein verwundeter Bär oder Moschusochse – mit alledem konnte sie fertig werden. Aber angesichts der Polizei war Edie Kiglatuk ratlos.
    Sie schaltete Motor und Beleuchtung aus. Eine gefühlte Ewigkeit lang saß sie nur da und sah auf das flackernde Blau, das ihr den Blick verstellte. Zwischen den Bäumen bemerkte sie eine Taschenlampe, sie hörte Männerstimmen, Schritte knirschten durch den Wald, ein Hund bellte.
    Zwei Männer in Uniform und ein Polizeihund stürmten zwischen den Bäumen hervor. Die Männer erblickten gleichzeitig den Wagen und blieben wie erstarrt stehen. Der ohne Hund zog seine Waffe. Der angeleinte Hund sprang knurrend und zähnefletschend hoch. Der eine Mann herrschte Edie an, sie solle die Hände hochnehmen und im Auto bleiben. Edie hielt die Luft an. Die Polizeipistole war direkt auf ihren Kopf gerichtet. Sie tat wie geheißen, hob langsam die Hände so weit, dass die Polizisten sie sehen konnten. Der mit der Pistole ging auf den Wagen zu. Sein Kollege mit dem Hund stellte sich vor den Wagen, seine Waffe schimmerte durch die Windschutzscheibe.
    Die Tür wurde aufgerissen. Der erste Polizist herrschte sie an, mit erhobenen Händen auszusteigen. Alles kam ihr jetzt verzerrt vor. Es ließ sich unmöglich sagen, wie viel Zeit verstrichen war. Edie stieg wie automatisch aus. Der erste Polizist tastete sie ab und befahl ihr dann, sich am Boden auf den Bauch zu legen, während sie das Auto durchsuchten. Das Eis fühlte sich zuerst hart an, dann weich. Gefrierendes Wasser drang durch ihren Parka bis auf ihre Haut. Als sie aufsah, war der Hund direkt neben ihr; sein übelriechender Atem schlug ihr ins Gesicht. Sie unterdrückte den Drang,

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