Zeig mir den Tod
nannte die Autonummer. »Mhm«, dann: »Verstehe«, und dann: »Kein Zweifel?« Als er auflegte, war er ernst. »Der Jeep ist um neun Uhr siebenundzwanzig in die Tiefgarage eingefahren.«
»Ich wusste es!« Lene sah zu Jo Krenz, lächelte in all dem Unglück. Jo lächelte verhalten zurück.
»Um zehn Uhr drei hat der Jeep die Tiefgarage wieder verlassen.«
»Was?« Lene schwankte. »Aber …«
»Sind Sie mit dem Wagen gefahren?«
»Nein, nein, wirklich nicht, ich …« Sie verstummte, und eine bedrückende Stille legte sich über die riesige Villa. Sie denkt dasselbe wie ich, dachte Ehrlinspiel und sah Freitag und Jo an.
»Marius«, flüsterte Lene Assmann nach einer Ewigkeit.
Der Hauptkommissar nickte. Hinter seinen Schläfen breitete sich der vertraute, drückende Schmerz aus. Gleichzeitig rebellierte sein Magen. Kein einziger Hinweis, keine Spur hatten bisher auf Marius als Täter hingedeutet. Im Gegenteil. Doch die neuen Fakten ließen nur diesen Schluss zu. Marius war als Einziger an den Ersatzschlüssel herangekommen. Marius hatte geglaubt, dass Assmann nicht sein Vater war. Er war enttäuscht gewesen, zornig vielleicht und voller Rachegedanken gegen seine Eltern. Und so hatte er die falsche Entführung geplant. Wahrscheinlich hatte Rebecca an der Haltestelle gewartet, bis er das Auto geholt hatte. Dort, wo sich die Spuren verlieren. Sie waren in ihr Versteck gefahren, und Marius hatte den Wagen zurückgebracht. Marius war nicht aus einem Gefängnis geflohen oder freigelassen worden. Er war die ganze Zeit frei gewesen. Konnte herumlaufen, Nachrichten verschicken und sich ansonsten mit seiner Schwester verstecken. Bis er überfahren wurde. Und Marius war auch der Einzige gewesen, der wusste, wo sich die schwerkranke Rebecca aufhielt.
[home]
34
E r konnte sich nicht vorstellen, dass er irgendetwas finden würde. Doch jetzt, nur wenige hundert Meter von diesem unglückseligen Todesort entfernt, von dem Graben, in dem Marius gelegen hatte, dachte er sich die verrücktesten Dinge aus, nur um den Gedanken zu vertreiben, dass auch Rebecca tot irgendwo lag.
Günthers Kleider hingen schwer an seinem Körper, vollgesogen mit dem Wasser, das sich erbarmungslos aus dichten Wolken über die Felder am Waldrand ergoss und die Landschaft in ein bleigraues Licht tauchte. Er schwitzte, als er mit jedem Schritt in den aufgeweichten Boden und in schlammige Pfützen sank, bis die Nässe in seinen spitzen Stiefeln schmatzte, die er noch immer nicht gewechselt hatte.
Bei der Universität hatte er ein Fahrrad genommen, das nicht abgeschlossen gewesen war. Irgendwo am Waldrand hatte er es achtlos ins Gestrüpp geworfen.
Er
musste derjenige sein, der Rebecca fand. Egal, ob tot oder lebendig, das war er ihr schuldig. Die Polizei durfte sie nicht anfassen! Er hatte Rebecca ihr Leben lang mit seiner Unfähigkeit, sie zu lieben, bestraft. Nur dieses eine Mal, dieses
verdammte
eine Mal, musste ihm irgendetwas in seinem verpfuschten Versagerleben gelingen!
Hundegebell ließ ihn stehen bleiben. Rasch huschte er hinter einen Baum am Waldrand, rutschte aus, klammerte sich an dem glitschigen Stamm fest und blinzelte durch die dicken Regenfäden. Nein, er hatte sich nicht geirrt. Am Ende des Ackers bewegten sich Leute. Dicht an dicht und winzig schwankten sie durch das Dämmerlicht, das den Tag wie einen Novemberabend erscheinen ließ. Um sie herum sprangen Hunde.
Die Polizei suchte die Gegend ab!
Er schlug sich ein paar Meter in den Wald hinein, kämpfte sich parallel zu dem Weg am Waldrand vorwärts. Äste und Dornen bohrten sich durch seine Hose, zerkratzten seine Beine, es war ihm egal. Rebecca! Das alles durfte nicht wie bei Annika enden. Nicht so, bitte nicht! Auch bei ihr war er umhergeirrt, verdreckt und verzweifelt. Nur, dass es trocken gewesen war und er genau wusste, wohin er wollte, dass er Annika bei sich gehabt und dann für immer losgelassen hatte. Rebecca war das Einzige, was ihm blieb! »Rebecca«, keuchte er leise, »wo bist du.« Das Hundegebell wurde lauter. »Ich habe das nicht gewollt.«
Plötzlich knackte es nicht weit vor ihm, und eine Männerstimme rief: »Hey, ich habe etwas.«
Rasch kauerte er sich zusammen. Robbte auf allen vieren weiter.
Der Mann, der gerufen hatte, stand am Rand eines Waldwegs und hielt einen Motorradhelm hoch. Ein hellgrauer Poncho reichte ihm bis fast zu den Knöcheln, die Kapuze hatte er tief in die Stirn gezogen.
Günther kannte weder den Mann noch den Helm. Wie auch? Marius
Weitere Kostenlose Bücher