Zeig mir den Tod
Hartes.
Wumm, wumm.
Sie erinnert sich daran, dass Mama den Brotbeutel in ihren Rucksack gestopft und sie dann in Papas Auto gescheucht hat. An dem Kiosk ist sie mit Marius ausgestiegen. Papa hat nicht mal die Hand gehoben, als sie tschüss gesagt und die Tür von innen aufgemacht hat. Er hat sie nur so komisch angesehen. Becci mag seine Augenbrauen nicht. Die sehen aus wie Fell, das man einer kleinen Maus gestohlen und bei ihm hingeklebt hat. Sie hat die Tür zugeschlagen, und sein Gesicht hat sich hinter der Scheibe gespiegelt. Es hat gebimmelt, und die Straßenbahn ist gekommen. Sie ist losgerannt. Marius hat sie an der Hand gehalten. Aber er ist hingefallen und hat sie mit zu Boden gerissen. Ihr Knie tut immer noch weh, und wenn sie es anfasst, fühlt sie das große Loch in der Strumpfhose. Mama wird bestimmt schimpfen. Dann ist da auf einmal diese Frau neben Marius und ihr gewesen.
Warum erinnert sie sich nicht daran, was dann passiert ist?
Sie schiebt die Hand in die rechte Jackentasche. Sie muss Mama simsen, dass sie später kommt. Ihre Finger ertasten den weichen Stoff, die Naht, ein zerknülltes Taschentuch. Wo ist ihr Handy? Sie muss Marius fragen. Aber jetzt hat sie Hunger. Einen Riesenhunger.
Sie schaut in die Ecke, aus der das Atmen kommt.
Direkt über ihr raschelt und kratzt es. Ein Vogel muss sich auf das Dach gesetzt haben. Ein Rabe oder eine Krähe wahrscheinlich, die sind so groß und machen laute Geräusche.
In der Ecke dreht er sich um, murmelt im Schlaf.
Sie darf nicht husten, sonst wacht er auf.
Leise lässt sie sich von der weichen Unterlage gleiten, bis ihre Füße Halt auf dem Boden finden. Das Licht durch die Ritze verändert sich, es wird heller. Sie tastet sich im Halbdunkel zur Tür, rüttelt vorsichtig daran, doch sie ist verschlossen. Becci presst ein Auge an den Schlitz. Draußen ist es hell. Kahle Äste und große Wurzelballen, Schnee, aus dem lange, gelbe Grashalme ragen. Dahinter ein Glitzern. Es zieht sich quer durch ihr Blickfeld und sieht aus wie der Gürtel, den Mama beim letzten Mal im Theater angehabt hat. Ein paar dunkle Punkte bewegen sich auf dem Gürtel.
Dann hört sie das schwere Stampfen. Erst leise, von weit her, dann immer lauter, als käme ein Riese angelaufen und würde sie einfach unter seinen Füßen zermalmen. Sie schreckt zurück. Hält die Luft an. Zittert. Dann wird das Stampfen wieder leiser.
Das Atmen in der Ecke bleibt gleichmäßig. Der Riese hat sich entfernt, nur der Wind pfeift noch, und die Vögel schicken ihre Schreie durch die Luft, als wollten sie mit ihm schimpfen. Mindestens zwei Krähen sind dabei. Und eine Möwe.
Beccis Magen knurrt. Sie muss sich beeilen. Sie wühlt in den Plastiktüten, die sie im schwachen Licht nicht weit von der Tür sieht. Eine große, runde Packung fällt heraus, sie tastet danach. Sie ist glatt und kühl, darunter fühlt sie Rillen, ganz gleichmäßig. Das Wasser läuft ihr im Mund zusammen. Mama würde noch mehr mit ihr schimpfen, noch lauter als die Vögel mit dem Riesen. Und Marius auch.
Sie dreht sich in Richtung des Atmens.
Ein, aus, ein, aus.
Ihr Herz schlägt schneller. Dann reißt sie die Packung auf. Lauscht. Er hat das Rascheln nicht gehört. Hastig beißt sie in einen Keks und schleckt an der süßen Schokolade zwischen den Schichten. Sie stopft sich den ganzen Keks in den Mund, gierig, kaut, schlingt, greift nach dem nächsten, und beim Schlucken tut ihr Hals weh. Sie weiß, dass sie das nicht darf. Aber sie hat doch solchen Hunger! Und außerdem hat sie ja eine Ausrede. Weil das Insulindepot leer ist. Sie kann ja gar nichts spritzen. Das blöde Ding an ihrem Bauch stört sie sowieso. Pauline und Amelie essen dauernd Kuchen in der Schule. Einmal hat Becci es abgelehnt, bei den Freundinnen abzubeißen, und da haben sie gefragt, ob sie auf Diät sei, und gelacht. Fast hätte sie erzählt, dass sie Diabetes hat. Aber dann hat sie an Mama und Papa gedacht. Und was dann passiert wäre.
Sie fischt einen neuen Keks aus der Packung. Isst. Bestimmt ist sie völlig verschmiert um den Mund, und der Boden ist voller Krümel. Sie mag Krümel. Am liebsten die von den Bananen-Rosinen-Cookies, die Mama und Marius manchmal für sie backen.
Dass das Depot leer ist, ist eigentlich nicht schlimm. Denn sie spielen ja Räuber und Gendarm, und beim Spielen ist alles erlaubt, und nichts ist echt. Daran glaubt sie, obwohl sie schon ein großes Mädchen ist.
Das Abenteuer gefällt ihr.
Dann muss sie husten, und der
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