Zeig mir den Tod
locker wie wir früher.« Er lächelte, und Ehrlinspiel fragte sich, wie locker der glattrasierte, dicke Mann mit dem gebügelten Hemd wohl einmal gewesen war.
»Wie ist Marius’ Verhältnis zu den Lehrern?«
»Gut«, fiel Elisabeth Heinemann ein. »Ich unterrichte ihn nicht, aber ich rede viel mit meinen Kollegen. Die Assmann-Kinder sind ja etwas … exponiert. Der Vater ist als Schauspieler nicht unbekannt.«
»Aber auch nicht berühmt.« Josianne nieste.
»Er wird es noch.« Heinemann schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Sie trug keinen Schmuck. »Er ist gut.«
»Erzählen Sie uns etwas über Rebecca.«
»Sie ist aufgeweckt, eigensinnig, tobt in den Pausen mit ihren Freundinnen umher und redet manchmal wie eine Erwachsene. Das hat sie sicher von ihrem Vater, diese Sprachbegabung.«
»Und ihre Krankheit?«, fragte Ehrlinspiel. »Wie ist das hier in der Schule?«
»Sie wissen …?« Heinemann hob die Augenbrauen.
»Sollten wir das nicht?«
»Nun ja, die Assmanns legen großen Wert darauf, dass Rebeccas Diabetes nicht an die Öffentlichkeit kommt.«
»Weshalb?« Die Eltern hatten nichts dergleichen erwähnt. Offenbar vermieden sie Publicity in jeder Form, wie auch beim Verweigern von Fotos in der Zeitung. Seltsam.
»Der Vater sagt nur, er wolle es nicht. Basta.«
»Hat er eventuell Angst davor, dass es seinem Ruf schadet?«
»Würde es das denn?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Ehrlinspiel wahrheitsgemäß.
»Rebecca ist ein schlaues Mädchen. Etwas verwöhnt vielleicht, aber sie lässt das die Mitschüler nicht spüren. Ich glaube fast, ihr ist das bewusst. Sie ist wirklich klug, daraus schöpft sie auch Kraft. Und sie will wie alle anderen sein. Leider betrifft das auch ihre Krankheit. Sie kümmert sich einfach nicht darum. Dabei könnte sie theoretisch alles selbst machen. Blutzucker messen, Werte ablesen, Insulin spritzen.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Dazu sollte sie immer ins Lehrerzimmer oder auf die Schultoilette gehen.«
»Wie bitte?«
»Die Assmanns haben ihr eingebleut, niemandem davon zu erzählen.« Der Direktor versuchte, an seinem Goldring zu drehen. Er bewegte sich keinen Millimeter. »Wir Lehrkräfte wissen natürlich davon. Wir haben ja auch eine Verantwortung und müssen kontrollieren, ob das Mädchen sein Insulin nimmt. Nicht, dass wir juristisch dazu verpflichtet wären. Aber man hat ja auch eine Moral.« Wieder lächelte er.
»Aber?«
»Sie ist viel zu quirlig und dickköpfig«, sagte Elisabeth Heinemann. »Sie schnappt sich Schokolade. Trinkt Limonade, wenn andere sie trinken. Alles ohne Blutzuckerkontrolle und Insulin.« Ihr Lächeln wirkte jetzt gequält. »Ich verstehe nicht, warum die Eltern das nicht offen kommunizieren. Rebecca ist nicht das einzige Diabeteskind hier an der Schule. Es gibt noch einen Jungen in der zehnten Klasse. Das weiß jeder, und es ist überhaupt kein Thema.«
»Frau Assmann ruft uns regelmäßig an«, sagte der Direktor. »Sie hat uns exakt informiert, was wir zu tun haben. Wann wir was kontrollieren müssen. Moment, bitte.« Er stand auf und ging durch eine Verbindungstür ins Lehrerzimmer, wo ihn ein paar Kollegen begrüßten. Seine Schuhe quietschten auf dem Linoleum, als er mit einem DIN -A 3 -Papier zurückkam und die Tür wieder schloss. »Hier.«
Ehrlinspiel blickte auf die Tabelle.
Zeit, Blutzuckerwert, zugeführte
BE
,
las er in der ersten Zeile. Der letzte Eintrag stammte vom Mittwoch, 12 : 30 Uhr. »Wir dokumentieren alles. Frau Assmann erklärt es immer und immer wieder. Unter uns gesagt, sie ist« – er beugte sich zu Ehrlinspiel vor – »etwas überspannt.«
So viel zum Thema »Wir schätzen die Familie Assmann sehr«, dachte Ehrlinspiel. Wahrscheinlich war Lene Assmann einfach nur sehr besorgt, nachdem sie schon Annika verloren hatte. Sie lebte vermutlich in der ständigen Angst, dass auch mit Rebecca oder Marius etwas passieren könnte. Und jetzt … »Nun ja, Rebecca ist immerhin krank.«
Elisabeth Heinemann verzog den Mund. »In Familien wie den Assmanns gibt es keine kranken Kinder. Hat Günther Assmann Sie eigentlich schon gestern verständigt?«
»Warum fragen Sie?«
»Er schien mir nicht erpicht darauf, die Polizei zu holen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Er schien mir eher genervt zu sein, weil die Kinder nicht hier waren. Aber nicht besorgt. Hat geraucht und gesagt, die Kinder seien sicher nur einen Cheeseburger und Pommes essen. Hatte es plötzlich eilig, wegzukommen.«
Ehrlinspiel
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