Zeig mir den Tod
Ahnung« oder mit Schweigen. Es war beinahe so, als gäbe es Marius in dem Kurs gar nicht. Als sei er nur Staffage, wort- und konturlos. Im Unsichtbarland.
»Ist Ihnen an Marius’ Verhalten in letzter Zeit etwas aufgefallen?«, versuchte Ehrlinspiel es zum Schluss.
»Schlechte Noten«, sagte Torben und zupfte einen unsichtbaren Faden aus dem Revers seines Pullovers. »Wahrscheinlich hat er im Elternhaus Probleme. So was kann doch zu Lernschwierigkeiten führen, oder nicht?«
War der Junge verlegen oder überheblich? »Wenn mir jemand etwas unter vier Augen sagen möchte – rufen Sie mich an. Jederzeit.« Er schrieb seine Handynummer an die Tafel. »Es bleibt unter uns.«
Die Blondine mit dem Kaugummi grinste ihn an.
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7
A ls sie aufwacht, pfeift der Wind durch die Ritze, die sie gestern schon entdeckt hat. Sie spürt sogar den Luftzug im Gesicht. Die Vögel kreischen, von links und rechts und über ihr, sie glaubt, dass es welche aus der Familie der Rabenvögel sind, und ihr ist kalt. Es ist schon seit Stunden kalt. Oder seit Tagen oder seit Monaten. Eigentlich, solange sie denken kann. Sicher weiß sie es nicht. Sie weiß auch nicht, wie sie hierhergekommen ist. Und was sie hier soll. Sie liegt weich, aber ihr Hals tut so weh, noch mehr als gestern, und als sie die Augen aufmachen will, kleben die Wimpern zusammen, und in ihrem Kopf dreht sich alles.
Irgendwann ist sie schon einmal wach gewesen, aber da war es dunkel, und sie ist auch gleich wieder eingeschlafen. Becci zieht die Decke zum Kinn hoch, doch die stinkt wie die, die sie einmal im Baumhaus vergessen hat, faulig und feucht. Nur dass die hier noch viel mehr kratzt. Sie schiebt sie weg und setzt sich auf. Fast verliert sie das Gleichgewicht und fällt über eine Kante. Es ist immer noch dunkel, aber ein bisschen heller als beim letzten Mal, als sie aufgewacht ist. Da hat sie überhaupt nichts gesehen, nur das Atmen neben sich gehört, aber sie hat keine Angst gehabt.
Bestimmt haben sie nur Räuber und Gendarm gespielt, und weil sie sich so gut versteckt hat, haben die anderen sie nicht gefunden und irgendwann vergessen. Das ist schon einmal passiert. Marius hat damals nämlich nicht in den Baum hinaufgeschaut, sondern nur in der Wiese und hinter den Stämmen und Büschen gesucht. Sie hatte oben gesessen und gelacht, so lange und so laut, bis er doch irgendwann hochgesehen hat. Das ist im Herbst gewesen, und seither hat Marius nicht mehr so oft Zeit. Er macht bald Abi und muss viel lernen.
Sie sieht sich um. Viel Platz gibt es nicht. Die Wände sind ganz nah, und die Ecken gehen rund in die Decke über, und an der Tür kommt außer dem Wind jetzt auch Licht durch die Ritze herein. Der Wind klingt genauso wie letzten Sommer im Baumhaus, als ein Brett kaputt gewesen ist. In der Nähe des Lochs hat sie die toten Spitzmäuse und Vögel aus dem Garten gesammelt. Eine Blaumeise und zwei Amselbabys waren es. Sie wollte sie beerdigen, dort, wo auch der Stein für Annika steht, von der Mama manchmal erzählt. Annika ist ihre große Schwester. Becci hat die Blumen bei Annikas Stein ausgegraben, und als sie die erste Maus in das Loch gelegt hat, ist Mama angerannt gekommen und hat ihr die Schaufel aus der Hand gerissen und die Tiere in die Mülltonne geworfen. Becci hat den ganzen Tag geweint. Es ist doch ungerecht, dass ein Mensch ein Grab bekommt und ein Tier nicht! Becci hat vor lauter Weinen Bauchweh bekommen, auch ihre Brust hat weh getan, weil sie immer an die Tiere im Müll hat denken müssen. Da hat Mama auch geweint und erklärt, wo der Stein steht, sei kein Grab. »Annika ist nur beim Spielen irgendwo«, hat sie gesagt. Becci hat ihr nicht geglaubt. Annika ist viel zu alt zum Spielen, sogar älter als Marius, sie ist doch schon längst erwachsen.
Vielleicht, denkt Becci jetzt, hat Annika auch Räuber und Gendarm gespielt und sich verlaufen. Und dann ist sie einfach bei den Räubern im Wald geblieben und hat einen von ihnen geheiratet. Bestimmt lebt sie in einer Höhle. Eine Räuberfrau. Das gefällt ihr! Sie würde Annika gern treffen. Dann würde sie ihr ein paar von ihren neuen Schminksachen schenken. Einen lila Lippenstift und Nagellack. Auch Räuberfrauen müssen nämlich schön sein!
Das Atmen neben ihr wird lauter. Ihr Hals kratzt.
Sie lässt die Füße baumeln, aber sie spürt sie kaum, so kalt sind sie, obwohl sie die Stiefel angelassen hat. Auch die dicke Jacke hat sie nicht ausgezogen. Ihre Fersen schlagen dumpf gegen etwas
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