Zeig mir den Tod
frage mich viel dringender, ob und wo da ein Zusammenhang besteht. Was haben die Assmann-Kinder Besonderes? Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Annika, Marius und Rebecca?« Er kaute. »Ich habe den Vormittag mit den alten Ermittlungsprotokollen verbracht. Ich konnte keine Verbindung finden.«
»Wir müssen mit den Kollegen reden, die den Fall Annika damals bearbeitet haben. Und mit den Zeugen.«
»Sind nur wenige. Bekannte der Familie. Mit einhelliger Aussage: Bilderbuchehe, Bilderbuchkind.«
»Wie immer.«
»Dann gibt’s noch die Vorschullehrerin von Annika. Und eine Kollegin und Freundin von Assmann. Edith Berger. Schauspielerin.«
»Hm.« Ehrlinspiel stocherte in dem Schafskäse herum. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu Hanna Brock, dem Abend hier und ihrer Begeisterung für die arabische Küche. Das Kichererbsenmus, in das sie sich hineinlegen könnte, wie sie mit strahlenden Augen gesagt hatte. Er erinnerte sich an das winzige Muttermal unter ihrem linken Ohrläppchen, das im Kerzenschein fast nicht zu sehen gewesen war. An den Roséweinfleck auf ihrer hellen Bluse und daran, dass er sich vorgestellt hatte, was darunter war. Bei der Vorstellung war es nicht geblieben.
»Moritz?«
Er blickte auf. Lächelte.
»Hörst du noch zu?«
»Sicher.«
»Ich mache mir Gedanken über den Vater der Kinder. Er deklamiert mir zu sehr. Wirkt mir zu bemüht, beinahe maskiert. Als stände er in seinem eigenen Wohnzimmer auf der Bühne.«
»Wir haben doch schon so viele Reaktionen erlebt, Freitag.« Er winkte Idris und bestellte einen Cappuccino für sich und für seinen Kollegen einen heißen Kakao mit Sahne. »Alltag zu leben kann Schutz sein. Ein Bollwerk gegen die Verzweiflung, Sorge und Sehnsucht. Hätte er das Theater nicht – vielleicht würde seine Welt jetzt endgültig zerbrechen.«
Die beiden schwiegen, und Idris servierte die Getränke. Ehrlinspiel ließ den heißen Kaffee durch seine Kehle rinnen. »Habt ihr sonst noch etwas herausgefunden?«
»Dass ein guter Freund ein Geheimnis hütet.« Freitag deutete mit dem Kinn auf Ehrlinspiels Smartphone. »Besucht sie dich?«
Das Herz des Kriminalhauptkommissars schlug hart gegen seine Rippen, und er spürte die Sehnsucht nach Hannas Berührungen, ihrer samtenen Haut, nach ihrem zarten Lavendelduft und nach all den Dingen, die ihm in den letzten Monaten ebenso lieb geworden waren wie ihre dunklen Augen, hohen Wangenknochen und geschmeidigen Bewegungen: ihre breiten Hüften, der krumme Zeh und ihr forsches »Fort, ihr Monster«, wenn Bentley und Bugatti nach ihren Frühstücksbroten angelten. Er liebte Hannas Nähe, ihr Selbstbewusstsein, ihre Verletzlichkeit. Er liebte, wie sie ihrem Saxophon so vielschichtige Töne entlockte, von frech näselnd bis erotisch. Und er liebte ihre Konsequenz, mit der sie ihre Lebenspläne umsetzte. »Nein«, sagte er. »Sie besucht mich nicht.«
Freitag sog die Lippen ein. »Weiß sie von Judith?«
»Das ist doch längst passé. Das war doch nur …«
Freitag griff in seine Aktentasche und legte eine Tafel Zartbitterschokolade zwischen die halbleeren Teller. »Dann vernasche wenigstens die hier.«
»Glucke!« Ehrlinspiel schnappte sich die Tafel. Nicht nur im Schreibtisch der Polizeidirektion hielt Freitag stets eine parat. Rasch öffnete er sie, entfernte das knisternde Silberpapier und brach ein Rippchen ab. »Hanna zieht bei mir ein«, sagte er und ließ die herbe Süße genüsslich auf der Zunge zergehen.
Freitags Mund ging auf und zu. »Geheimniskrämer! Und wann?«
Ehrlinspiel sah auf seine Armbanduhr und aß ein zweites Stück Schokolade. »In sechsundzwanzig Stunden. Die Spedition kommt morgen Nachmittag gegen drei.«
Ein breites Grinsen breitete sich auf Freitags Gesicht aus. Sein Lausbubengrinsen. »Halleluja.« Er hob die Kakaotasse und trank. Auf seiner Oberlippe saß ein weißer Sahnerand.
Später
Der Kuckuck ruft erneut. Zweimal, kurz hintereinander. Dann weitere zweimal.
Am Horizont, über den Baumwipfeln gegenüber des Flusses, zeichnet sich ein erster heller Schimmer ab. Sein kräftiges Blau drängt durch den schwarzen Samt der Nacht. Ich muss an Eduard Mörikes Gedicht Er ist’s denken und flüstere leise: »Frühling lässt sein blaues Band, wieder flattern durch die Lüfte. Süße, wohlbekannte Düfte, streifen ahnungsvoll das Land.«
Ahnungen.
Damals, im Mai, bevor ich voller Hoffnung und Liebe auf das Licht zugegangen bin, habe ich oft an diese Zeilen gedacht. An die Wärme und Süße, die
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