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Zeig mir den Tod

Zeig mir den Tod

Titel: Zeig mir den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Busch
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ich in jeder Faser gespürt habe, vom Haaransatz bis in die Zehenspitzen. Die Sehnsucht. An das Gefühl, fliegen zu können. Bis ich vor mir die Hölle gesehen habe. So muss es dem Mädchen auch gegangen sein, als es hier lag, ein Bündel letztes Leben, den Tod vor Augen und die Hoffnung auf einen Himmelsflug im Herzen, hier, nur wenige Schritte von der Birke entfernt, wo ich so viel Zeit verbracht habe. Wo ich gekifft und gevögelt habe, geliebt, gelebt und … Unrecht getan. Wo ich glücklich gewesen bin. Heute werde ich es tun. Aufsteigen. Dem Licht entgegen. Ich zittere davor und bin gleichzeitig völlig ruhig.
    Ein sanfter Windhauch streift über meine nackten Arme, überdeckt den Duft der aufgeworfenen Erdschollen mit dem Geruch schweren Motoröls. Meine Haut ist für Sekunden wie elektrisiert. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper. Dort, wo meine Hände liegen und die nassen Kleider auf meine Rippen pressen, wird meine Haut kalt wie Eis. Es macht mir nichts aus.
    Die Nacht geht.
    Der Tod kommt. Zum dritten Mal.
    Der Sommer wird anderen gehören. Nicht mehr mir, nicht mehr den Dämonen. Frei muss meine Seele sein. Hell und lebendig. Keine durchwachten Nächte mehr, keine schweißnassen Laken. Nicht mehr diese fragenden Blicke ertragen müssen und nicht mehr die eigenen stummen Antworten aushalten.
    Zu viel habe ich zerstört.
    Ich lege den Kopf in den Nacken, lehne ihn an den Baumstamm und warte. Vielleicht zieht wieder ein Vogelschwarm über mir vorüber. Vielleicht trägt er mich doch hinweg in die Unendlichkeit des Firmaments. Doch nichts bewegt sich am Himmel, nur ein paar Zweige schwingen sanft in der Baumkrone hin und her. Ein entfernter Schrei, kein Kuckuck, ein Schwan wahrscheinlich, und ein Knacken hinter der Baumgruppe zum Fluss hin.
    Kuckuck. Ich muss lachen. Welche Ironie.
    Ich bin allein. Allein, wie damals.
    Allein.
    Einsam.
    Unsichtbar. So, wie auch Marius es gewesen ist. Armer Marius. Arme Rebecca. Arme Annika.
    Bis heute kann ich nicht glauben, dass nur ich von Annikas Schicksal gewusst habe. Verantwortung dafür trage, zusammen mit den anderen, deren Seelen nie Ruhe finden werden. Die ewig in Mephistopheles’ Fängen verloren sind. In den Krallen des Teufels.
    Ich habe geliebt. Bis zum Wahnsinn geliebt.
    Ich lächle in den Himmel.
    Für mich wird alles gut werden.

[home]
    9
    Freitag, 22 Uhr
    E r riss die Zeitung vom Tisch, und klappernd fiel ein Schminktiegel zu Boden. »Verdammt!«, zischte er, und seine Hand begann zu zittern. Seine Kinder lachten ihn an.
    Wer, zum Satan, war in seiner Garderobe gewesen? Hatte dieses Zeugnis seiner Schmach hier hingelegt?
    Günther Assmann überflog die Zeilen der Stadtkurier-Sonderausgabe.
Vermisst. Keine Spur. Minusgrade. Polizei schließt ein Verbrechen nicht aus. Rebecca Assmann benötigt lebenswichtige Medikamente. Eltern verzweifelt. Bevölkerung dringend um Mithilfe gebeten.
Seine Finger krümmten sich zur Faust, zerknüllten das dünne Papier. »Scheiße, Lene«, presste er hervor, »du hast tatsächlich diesen Wisch unterschrieben.« Wütend warf er den Papierball zu Boden, der raschelnd unter den Schrank kullerte, in dem Assmanns feine Wollhose und der Angorapullover lagen. Dann fegte er mit einer einzigen Handbewegung Make-up- und Puderdosen vom Tisch. Diesem armseligen, zerkratzten, wackeligen Ding in dem noch armseligeren, stinkenden Kabuff.
    Kein Wunder, dass die Probe heute ein einziger Spießrutenlauf gewesen war. Bis eben, als er durch die schwere Metalltür von der Bühne in den Künstlerbereich zurückgekehrt war, hatte er gedacht, es sei die allgemeine Aufregung. Das typische Chaos, die Befindlichkeiten und Neidattacken kurz vor der Premiere.
    »Schluuuss fürrrr heute, Schluuuss«, hatte Pjotr Günthers Spiel unterbrochen und seine dünnen Arme in die Luft geworfen. Dabei waren sie noch nicht einmal mit der Walpurgisnacht-Szene durch gewesen. »Fürwahr, es sind die Augen einer Toten, die eine liebende Hand nicht schloss. Das ist die Brust, die …«, hatte Günther weitergesprochen, als der Regisseur »Njet, njet, Güntärrr, Kattastroffe, Kattastroffe!« schrie. Auf der Bühne war alle Bewegung zum Stillstand gekommen. Im Hexenchor hatte ein Tuscheln eingesetzt, das Irrlicht kicherte. Assmann hatte geschwitzt, hatte nichts verstanden, nicht, weshalb Pjotr abbrach, und nicht, weshalb ihn alle anstarrten. War sein Auftritt so desaströs gewesen? Verwirrt hatte er zu Pjotr in den Zuschauerraum hinabgesehen und gefragt: »Was ist

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