Zeig mir den Tod
Herr Assmann. Es war ein Auto. Er wurde angefahren.«
»Ich wollte immer nur Annika zurückhaben!« Seine Unterlippe zitterte unkontrolliert. »Sie ist in meinen Träumen, Tag und Nacht. Ich rieche sie. Ich fühle ihre weiche Hand in meiner. Ich höre sie lachen und singen, und wenn sie an mir vorbeirennt, flattert ihr Kleid, und ich spüre den Luftzug. Ich habe gedacht, dass sie zurückkommt. Dass das alles nicht wahr ist. Marius war nur … Ich habe ihn nie wahrgenommen. Auch Rebecca nicht. Nur Annika. Aber sie ist für immer verloren.« Er wollte aufstehen, doch die Hand des Kommissars drückte ihn hinunter. »Verloren. Wie Marius. Verzeih, Marius. Ich wollte das nicht, ich habe nicht gut genug gespielt, ich habe die Aufgabe nicht erfüllt, ich …«
»Doch, Sie haben die Aufgabe erfüllt.« Das Gesicht des Kommissars war jetzt direkt vor seinem. »Marius war bereits tot, als Sie auf die Bühne getreten sind. Sie hätten nichts tun können.«
Er starrte in die grünen Augen des Mannes. Grün, die Farbe des Lebens. Was redete Ehrlinspiel da! »Marius.« Er sah den Tag der Geburt vor sich, hörte seinen ersten Schrei, sah sein erstes Lachen. Sein Atem ging schneller. »Du kannst nichts dafür, dass diese Frau mich betrogen hat«, sagte er zu dem Leichnam und nickte zu Lene. »
Sie
ist schuld!«
Lene heulte auf, und die Rothaarige legte den Arm um ihre Schultern, sagte irgendetwas, aber er verstand es nicht. Sie führte seine Frau weg von der Bahre, als der Blonde wie aus dem Nichts wieder vor ihm stand. »Das wird Sie beruhigen.« Er zeigte ihm eine Spritze.
Günther fuhr hoch. »Ich muss Rebecca finden!«
»Zuerst müssen Sie einen klaren Kopf bekommen.«
»Ich
bin
klar im Kopf. Klarer als Sie alle zusammen.« Voller Verachtung sah er von einem zum anderen. »Oder hat
irgend
jemand von Ihnen meine Kinder retten können?«
Der Blonde mit der Spritze trat näher.
»O nein, ich bin kein Irrer«, schrie Günther. »Ich suche meine Tochter. Rebecca ist das Einzige, was mir geblieben ist.« Er rannte zwischen den Leuten hindurch und riss die grüne Flügeltür auf, durch die sie hereingekommen waren. Kühle Luft schlug ihm ins Gesicht, als er über die Pflastersteine die Rampe hinauflief bis zur Straße, immer weiter, ziellos, keuchend, wie ein Getriebener. Er bemerkte nicht die Vögel und nicht die ersten Sonnenstrahlen, nicht die Autos, die hupten, und nicht die Straßenbahn, die schrill klingelnd an ihm vorbeidonnerte, bis er irgendwann fiel, ein paar Meter kroch, sich die Knie aufschürfte, dann auf den Boden sank. Als er »Rebecca« rief, troff Speichel in den sandigen Boden.
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27
B etretene Stille legte sich über den Soko-Raum, als Frank Lederle die Fotos des toten Marius an die Wand projizierte. Der Soko-Leiter war einer der wenigen, die weder verquollene Augen hatten noch unrasiert waren und zerknitterte Kleider vom Vortag trugen – obwohl auch er seit Stunden auf den Beinen war. Ehrlinspiel hatte ihn noch vom Leichenfundort aus benachrichtigt.
Der Raum glich mittlerweile einer Kommandozentrale. Telefone waren auf den Tischen geschaltet, drei Rechner mit 30 -Zoll- TFT -Displays standen an separaten Tischen vor der Wand, an ihnen arbeiteten rund um die Uhr die Spezialisten der TKÜ , ein Verbindungsmann zu den Suchtrupps, die seit dem Morgengrauen die Umgebung des Leichenfundortes durchkämmten, sowie zwei Experten der Operativen Fallanalyse. Auf einem Monitor flimmerten Luftaufnahmen. Wie eine Steppdecke wirkten die hell- und dunkelgrünen und braunen Felder, die vier Baggerseen mit den Kiesgruben glichen schmutzig blaugrauen Flecken, die von dem ebenso schmutzigen Rhein nur durch einen dunklen Baumgürtel getrennt waren.
Ehrlinspiel selbst hatte nur zwei Stunden geschlafen. Immer wieder war er aus dem Sessel hochgeschreckt, in den er sich bei den Assmanns gesetzt hatte. Er war direkt vom Gündlinger Wald in die Villa gefahren. Dort hatte er bei Tee und gedämpftem Licht mit den Eltern gesprochen und gemeinsam mit Jo Krenz versucht, beruhigend auf die beiden einzuwirken – während Larsson und sein Team, die Schürzen über ihrer OP -Kleidung, Marius obduzierten. Am frühen Morgen, als Marius zugenäht und gewaschen war und der Präparator die zerfressenen Augenhöhlen, so gut es ging, mit Mulltüchern ausgepolstert und die Lider darübergezogen hatte, hatte er die Eltern zur Identifizierung in die Rechtsmedizin begleitet.
Jetzt war seine linke Schulter verspannt, und jede Bewegung des Arms
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