Zeig mir den Tod
ihn.
»Lorena?« Er presste das Handy wieder ans Ohr.
Eine Wolke schob sich vor den Mond, und das Licht der Flutlichtscheinwerfer wirkte noch greller.
Sie lachte ebenfalls. »Entschuldige, Moritz. Ich bin mit Professor Larsson verabredet. In der Rechtsmedizin. Ich werde bei der Sektion dabei sein. Die Öffentlichkeit verfolgt jede Bewegung des kleinen Fingers von uns mit Argusaugen. Der Fall ist wichtig, und er interessiert mich. Eben wollte ich dich deswegen anrufen. Freitag und du, ihr habt ein paar Stunden Schlaf verdient.«
»Lorena, das ist jetzt nicht lustig, ich …«
»Hat Larsson dir nichts gesagt?« Sie schwieg einen Moment. »Ärgere dich nicht. Du kennst den Knaben doch.«
»Ich fahre zu den Eltern. Krenz hat Günther Assmann und seiner Frau bereits gesagt, dass ein toter Junge gefunden wurde, auf den Marius’ Beschreibung passt.«
»Schaffst du das noch?« Er hörte den silbernen Armreif, den sie immer trug, gegen den Hörer klimpern. Sofort sah er die elegante Frau mit der rötlichen Mähne vor sich. Das graue Kostüm. Ihre gütigen Augen, die jedoch, wenn nötig, eiskalt dreinschauen konnten.
Mit einem gedämpften Schlag fiel die Heckklappe des Leichenwagens zu.
»Natürlich!« Sein Kopf fühlte sich an, als ziehe jemand ein Stahlband immer fester darum.
»Ein Elternteil muss den Jungen identifizieren. Eine DNA -Analyse dauert zu lange. Aber das genügt morgen. Nach der Obduktion. Wir sind ja eigentlich … sicher.«
»Ja.« Er klappte das Handy zu.
Die Corvette dröhnte. Larsson hob kurz die Hand. »Ich sagte doch: Frau Stein wird es nicht morgen früh absegnen. Sie wird die Papiere
gleich
mitbringen.« Er fuhr los, hinter dem Leichenwagen her. Ein makaberer kleiner Konvoi, dessen rote Rücklichter hinter einer Kurve am Waldrand verschwanden, ihren Weg nahmen Richtung Innenstadt, durch das Institutsviertel und über die Rampe eines gelb gemauerten, verschmutzten Gebäudes, hinunter in die Leichenanlieferung, wo die grüne Flügeltür sich öffnen und den Körper des hübschen Jungen in einem gekachelten kalten Raum in Empfang nehmen würde.
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26
Montag, kurz vor 7 Uhr 30
D u elender Versager.« Günther Assmann öffnete die Augen.
Nur für Sekunden hatte er sie geschlossen gehabt. Und doch eine Ewigkeit. Nichts hatte sich seither verändert. Nicht die blasse Haut, nicht das zarte Gesicht und nicht die langen Wimpern über den geschlossenen, seltsam unförmigen Augen. Die Haare hätte er dem Jungen so oft am liebsten abgeschnitten. Jetzt hingen sie strähnig an seinen Schläfen herab, die Spitzen berührten das Metall, auf dem Marius lag.
Günther Assmanns Brustkorb hob und senkte sich. »Nicht einmal über die Straße gehen kannst du, ohne dass du dich plattmachen lässt! Da gebe ich alles für dich auf, mache mich zum Affen, und du, du …« Ein Glucksen drang aus seiner Kehle, er konnte sich nicht dagegen wehren. Ganz langsam stieg es aus seinem Innern auf, bahnte sich seinen Weg nach draußen, ein zweites Glucksen folgte, ein drittes. Immer schneller kamen die Laute. Er schnappte nach Luft, roch Metall und irgendeine Chemikalie und hörte Lene wimmern.
Noch vor einigen Stunden hatte er geglaubt, dass der Alptraum vorüber wäre. Dass wenigstens die Kinder überlebten. Er wäre ohnehin tot. Als Krenz an die Garderobe geklopft und schließlich hineingerufen hatte, dass sie mit großer Sicherheit Marius gefunden hatten, hatte er endlich die Tür aufgeschlossen. Erleichtert, fast ungläubig, dass doch alles gut geworden war. Zumindest für die Kinder. Er war sicher gewesen, Marius und Rebecca zu Hause vorzufinden. Dass Krenz Rebecca nicht erwähnt hatte, war ihm weder in dem Moment noch während der Fahrt in die Villa aufgefallen. Er war einfach in das Haus getaumelt, wollte die Kinder sehen, sich davon überzeugen, dass sie lachend am Tisch saßen. Nie zuvor hatte er diese Sehnsucht nach den beiden verspürt, nie diesen Wunsch, sie einfach in den Arm zu nehmen.
Und jetzt stand er hier in der Leichenanlieferung des Instituts für Rechtsmedizin, in diesem Vorraum zu den Sektionssälen, in dem Angehörige sich verabschieden konnten. Blickte auf den Körper seines Sohnes. Oder auf den, den er fast neunzehn Jahre dafür gehalten hatte. Weiße, glatte Haut. Flaum auf der Oberlippe. Eine grob genähte Wunde auf der Wange, ein winziger Bluterguss am Wangenknochen.
Nein, das war alles nur ein Traum.
Ja, es musste ein Traum sein. »Er schläft doch nur«, flüsterte er, sah um sich,
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