Zeig mir den Tod
in die Gesichter der Leute, und das Glucksen hörte langsam auf. »Komm, wach auf«, rief er dem Jungen zu. Doch der regte sich nicht. Er rüttelte Marius an der Schulter. »Aufwachen, habe ich gesagt!«
Lene wimmerte noch lauter, und am liebsten hätte er ihr den Mund zugehalten, doch sie stand auf der anderen Seite der Bahre, und er wollte nicht so grob über Marius hinweggreifen. Er beugte sich über den Jungen, nahm ihn an beiden Schultern, ganz sanft, wunderte sich über die Kälte und Steifigkeit, rüttelte ihn ein wenig. Der Kopf und Marius’ Hände fielen leicht hin und her, ansonsten war der Junge starr wie die Puppen aus der Kostümschneiderei. »Marius?« Er wurde wütend. »Ich hab gesagt, du sollst –«
»Herr Assmann.« Jemand fasste ihn von hinten an den Oberarmen und zog ihn hoch. »Marius ist tot.«
Günther fuhr herum. Kommissar Ehrlinspiel stand direkt hinter ihm. Er trug noch immer den zerknitterten Anzug, in dem er heute Nacht bei ihm zu Hause aufgetaucht war, als auch Krenz diesen Mist mit dem toten Kind erzählt hatte. Er blinzelte. »Tot, ja.«
»Er wird nicht mehr aufwachen.« Der Polizist ließ ihn los, und Günther rieb sich über die Oberarme. »Nicht mehr aufwachen«, flüsterte er, und seine Augen brannten, doch sein Körper war kalt. Leer. Als bestände er aus zwei Teilen, die nicht zusammenpassten. »Sie haben ihn so schön zugedeckt.« Sein Blick blieb an einem blonden Mann mit Brille und Bärtchen und einer großen Frau mit roten Haaren hängen. Kannte er die beiden, die hier mit in dem Raum standen, der nur aus Weiß zu bestehen schien? Ja, sie hatten ihn angesprochen, vor Jahrhunderten, hatten ihm auch ihre Namen genannt, erklärt, dass sie seinen Sohn obduziert hatten, doch er konnte sich nur vage daran erinnern.
Von nebenan drangen Stimmen herein, ein schlaksiger Mann mit rotblondem Haar streckte den Kopf durch eine Tür, und dahinter erkannte Assmann einen Edelstahltisch, der noch mit Blut verschmiert war. An seinem Rand standen braune Plastikbehälter, in denen irgendetwas schwamm, das wie buntes Gulasch aussah.
»Raus«, zischte der Blonde mit der Brille.
»Sorry, ich wusste nicht … dachte, der junge Mann kann jetzt ins Kühlfach.«
»Kühlfach«, wiederholte Günther. Das war noch enger und kälter als dieser Abschiedsraum.
Er betrachtete die weißgekachelten Wände, die fast raumhohe Waage, die auf der anderen Seite von Marius stand und deren runde Anzeige direkt neben Lenes Kopf und genauso groß wie dieser war. Er spürte unbändigen Zorn, als er die überdimensionierte Christusfigur aus Holz entdeckte, dieses hässliche Ding, das auf ein fünfeckiges Brett genagelt war und ihn von der Schmalseite des Raumes aus von oben herab zu verspotten schien.
Lene wimmerte wieder, sie hörte gar nicht mehr auf.
»Herr Assmann, ist das Marius? Ihr Sohn?«
War das Ehrlinspiels Stimme? »Sohn«, brachte er mühsam hervor.
»Es ist unser Kind.« Lene streckte eine Hand aus, berührte zaghaft Marius’ Haar, zog die Hand zurück, streckte sie wieder aus, zog sie zurück.
Nein, das hier war kein Traum. Kein Alptraum. Kein Film und kein Theaterstück. »Ich habe dich getötet«, sagte Günther, und die Leere in ihm füllte sich mit Schuld wie damals bei Annika. Doch dieses Mal strömte auch etwas anderes in ihn, nämlich all die Gleichgültigkeit, die er dem Jungen entgegengebracht hatte. Sie floss zusammen mit der Reue in ihn hinein, eisig und ätzend, ergoss sich in jede Zelle, flutete seine Adern und sammelte sich in seinem Bauch und in seinem Herzen, schwoll an, bis der Schmerz ihn zu sprengen drohte. »Es tut mir leid!« Der Schrei kam unvermittelt, und an Lene gewandt, brüllte er weiter: »Ich!
Ich
habe ihn getötet! Ich habe ihn verabscheut, gehasst, ich wollte ihn nicht, seine Sorgen haben mich nicht interessiert und Rebeccas auch nicht! Ich habe ihn umgebracht, unsere Familie, dich!«
Ein Krampf schüttelte ihn, und er fiel auf die Knie, das Gesicht direkt vor den Rädern der Rollbahre. »Ich bin ein Mörder!« Er schlug seinen Kopf gegen das Metallgestell, schmeckte Blut und roch Urin. »Ich konnte dich nicht einmal in diesem Scheißspiel retten. Dieses verdammte Scheißspiel!« Wieder und wieder schlug er seine Stirn gegen den Edelstahl, bis ein paar Hände ihn unter den Achseln packten und auf die Beine zogen.
»Ich hole ihm etwas«, sagte der Blonde und verschwand, während Ehrlinspiel Günther auf einen Stuhl setzte.
»Sie haben Marius nicht getötet,
Weitere Kostenlose Bücher