Zeig mir den Tod
wühlte eine Packung
Marlboro Gold
aus einer Handtasche, die einem Einmannzelt Konkurrenz machte.
Drinnen herrschte Tumult. Stimmen, das Geräusch von Reißverschlüssen, Rascheln und Stühlerücken. Der Direktor steckte gerade zwei dicke Bücher in eine Aktentasche. Sein Bauch schob sich ein Stück über das Pult, als er sich nach vorn beugte.
»Wo ist Vanessa?«, fragte Ehrlinspiel ihn ohne langes Vorgeplänkel und dachte, dass die Geräuschkulisse in Schulen seit hundert Jahren unverändert war, bis auf das Piepsen der Handys und Laptops. Auch der Geruch nach Bohnerwachs und Staub, manchmal ein bisschen nach Leder, würde sich nie ändern.
»Fehlt.« Der Direktor schnaufte.
»Mein Kollege – Jo Krenz«, sagte Ehrlinspiel, um nicht ganz unhöflich zu sein. »Krankgemeldet?«
»Das weiß ich nicht, ich muss erst ins Sekretariat.«
Der Hauptkommissar sah sich um. Vorn saß – wie bei ihrem letzten Besuch – Torben Tretter, und auch heute trug er einen Pullover mit V-Ausschnitt. Jetzt ein weinrotes Exemplar. Seine Kurzhaarfrisur schien frisch getrimmt. »Können wir noch einmal helfen, Herr Ehrlinspiel?«, sagte der Junge, als ihre Blicke sich trafen.
Der Kommissar stellte sich neben ihn, vorn in den Gang zwischen den Tischreihen. »Ja.« Auf Torbens unterschwellige Provokation ging er nicht ein. »Wo ist Frau Sigismund?«
»Vanessa? Krank, vermutlich.«
Im Klassenzimmer wurde es leiser. »Vermutlich? Herr Tretter, Ihre Freundin erscheint nicht zum Unterricht, und Sie haben ihr nicht einmal eine SMS geschrieben? Oder mit ihr gechattet? So etwas kann doch jedes Handy heutzutage.«
Jemand kicherte.
»Ich bin nicht Vanessas Hüter.«
»Haben Sie heute schon Nachrichten gehört?«
Augenblicklich wurde es mucksmäuschenstill, und Torben sagte lächelnd: »Wir widmen uns während des Vormittags dem Unterrichtsstoff.«
Ehrlinspiel stützte sich direkt vor Torben auf den Tisch. Drei Reihen dahinter saß Konstantin, neben dem Marius’ Platz noch immer leer war – und das für immer bleiben würde.
»Wir haben Marius gefunden.«
Torben starrte ihn an, und bis auf das leise Rauschen vorbeifahrender Autos und das fröhliche Stimmengewirr von der Eingangshalle her war nichts mehr zu hören. Der Direktor reagierte als Erster. »Das ist ja …« Seine feisten Backen glänzten. »Ich freue mich! Ich kann Ihnen gar nicht sagen …« Dann wurden seine kleinen Äuglein noch kleiner. »Aber warum … sind Sie dann hier? Sie sagten, Marius … Was ist mit Rebecca?«
Ehrlinspiel nickte zu Jo Krenz, der noch immer mit verschränkten Armen neben dem Direktor stand. Jo erklärte das, was auch der Pressesprecher Edgar Habermaß vorhin an die Medien geschickt hatte: dass Marius freigekommen, aber verletzt war. Während er redete, ließ Jo seinen Blick immer wieder über die Jugendlichen schweifen. Als er Torben ansah, schob der kaum merklich den Unterkiefer hin und her.
»Torben liegt in der Uniklinik. Nach Rebecca suchen wir noch.«
»Aber wie …? Warum …? Wer …?« Der Direktor fummelte an seinem zu engen Ehering herum.
»Wir wissen es nicht.«
»Also.« Ehrlinspiel fixierte Torben. »Wo ist Vanessa? Zu Hause? Wir haben keine Zeit für Spielchen. Und sie kann vielleicht helfen.«
Wieder mahlte sein Unterkiefer.
»Nun gut, dann werde
ich
Ihre Freundin anrufen«, sagte Ehrlinspiel. »Oder haben Sie etwas dagegen?«
»Wieso sollte ich?« Torben lächelte wieder, doch seine Hände schlossen sich zu leichten Fäusten.
»Aber zuerst« – Ehrlinspiel richtete sich auf – »unterhalten wir beide uns noch einmal unter vier Augen.« Der Junge hatte Angst. Irgendetwas stimmte da nicht. Seit Jo erwähnt hatte, dass Marius in der Klinik lag, wurde Torben zunehmend nervöser. Warum? »Gehen Sie bitte nach draußen«, sagte der Kommissar, und bis auf Torben verließen alle das Klassenzimmer, auch der Direktor. Krenz schloss die Tür hinter ihnen und setzte sich dann neben Torben. Ehrlinspiel nahm auf der anderen Seite des Jungen Platz.
»Ich werde meinen Vater anrufen.« Torben sah den Kommissar an. Der hielt ihm sein Handy entgegen. Der Kerl wollte mit dem Anwalt drohen. Dem großen Herrn Papa. Aber davon würde er sich nicht provozieren lassen. »Gute Idee. Dann kann er Ihnen auch gleich die Paragraphen einundfünfzig und zweiundfünfzig der Strafprozessordnung erklären.« Folge des Ausbleibens von Zeugen und Zeugnisverweigerungsrecht bei Ladung vor Gericht. Das war zwar alles nicht – oder noch nicht – relevant,
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