Zeilen und Tage
bis zum Tagesanbruch durchzuhalten. Man sollte das Wort Brüderlichkeit reservieren für Menschen, die wissen, was das heißt.
2. Juni, Amsterdam
Das Quartett zu dem Sport-Thema »Übermenschen unter sich« schien dem Publikum und den Akteuren ziemlich gut geraten, zwischen Unterhaltung und Unterrichtung halbwegs ausbalanciert.
Ladies and Gentlemen, we already started our descent to Amsterdam Airport. Lerne aus dem KLM-Bordmagazin einiges über lichttherapeutische Behandlung von Winterdepressionen in nordeuropäischen Ländern, für die man neuerdings den Terminus Seasonal Affective Disorders (SAD) eingeführt hat. Solche Ausdrücke zeigen die Pathologisierung, Professionalisierung und Merkantilisierung des Umgangs mit normalen Phänomenen an. In Eindhoven soll demnächst der weltweit erste Master-Studiengang für lichttechnische SAD-Behandlung eingerichtet werden.
Nachmittags bei Rene auf dem neuen, modern ausgestatteten Hausboot, von dem die vormalige Seefahrtromantik von 1928 (aus diesem Jahr stammte das alte Schiff) ganz verschwunden ist. Connie Palmen sagt, dies sei jetzt die schönste Wohnung von Amsterdam. Rene ist von der Chemotherapie gezeichnet, doch im Gespräch präsent und heiter wie immer. Den ganzen Nachmittag verbringen wir auf der Terrasse mittschiffs bei Wein und Essen. Gegen neun Uhr abends geht ein Gewitter nieder, um elf bin ich zurück im Ambassade. Sogar an wärmeren Tagen erlischt das Straßenleben hier früh.
3. Juni, Amsterdam
Mittags im Sea Palace. Rene zitiert einen Satz von Konfuzius: »Mit siebzig konnte ich den Regungen meines Herzens folgen,ohne jemals eine Sünde zu begehen.« Später sah ich an der Centraal Station eine junge Frau, bei deren Anblick sich der Wunsch einstellte, siebzig zu sein, der Regung wegen. Für das übrige wäre vierzig die Obergrenze gewesen. Ich fragte mich nur, was mit dem weiblichen Selbstbewußtsein nicht stimmt, wenn ein Wesen mit einem derart evangelischen Gesicht ein solches Amok-Decolleté zeigt.
Das Rätsel des Bewußtseins versteckt sich in seinem Nebeneffekt-Charakter. Aller Wahrscheinlichkeit nach macht es in seiner heutigen Ausprägung nicht mehr als eine auf Dauer gestellte, inzwischen weitgehend funktionslose Extraleistung des Gehirns aus, für die man im Arsenal der vitalen Zwecke keine zureichenden Gründe findet. Ursprünglich war es wohl so etwas wie eine Kontroll-Lampe, die über dem Fluß der Wahrnehmungen wachte, allenfalls ein Monitor, dessen interner Beobachter zwischen Alarm und Nicht-Alarm entscheiden sollte. Es wurde chronisch und neigte zur selbstbezüglichen Überentwicklung, zumindest bei einigen sensibleren Exemplaren der Gattung, indes die Dumpferen damit kaum je Probleme hatten. Zuletzt schien es den Philosophen und den Meditierern das innere Licht zu sein, das alle meine wachen Zustände muß begleiten können. Was zeigt: Vor dem Luxus demissioniert die Frage nach dem Sinn.
Demnach wäre das Bewußtsein, das wir von unserem eigenen Dasein und unserem Eingetauchtsein in eine Umwelt haben, ein überinterpretiertes Überschußphänomen? Läßt man die Annahme gelten, springt die abgrundtiefe Ironie ins Auge, daß es gerade die ernsthaftesten Geister waren, die Asketen, die Wahrheitssucher, die Logiker, die dem luxurierenden Phänomen Bewußtsein die höchsten Leistungen aufbürden wollten – von der Vereinigung der Privatseele mit der Weltseele bis zur ästhetischen Rechtfertigung der Existenz.
Wie wäre es, wenn der adäquateste Gebrauch des rätselhaften Geschenks darin bestünde, es hinzunehmen und auf sich beruhen zu lassen? Nicht ganz. Ein wenig Betonung schadet nicht, sonst wäre diese leise Euphorie beim Blick aus dem Hotelfenster nicht möglich, wenn das grüne Wasser in der Gracht glitzert.
Finde bei Hermann Hesse die Formulierung: »das Wiederaufnehmen der ganzen Lebensmechanik«. ( Der Kurgast , Werke Band 11, S. 59)
4. Juni, Karlsruhe
Er ist ein glücklicher Mensch? Das ändert nichts daran, daß er ein Reservist der Verzweiflung bleibt.
Ein neuer möglicher Straftatbestand: Aufreizung zur Magersucht. Ein solcher Paragraph würde erlauben, Moderatorinnen von Model-Shows hinter Gitter zu bringen. Hätte der Neoliberalismus Titten aus Zement, er sähe aus wie Heidi Klum.
5. Juni, Karlsruhe-Berlin
Noch einmal zum rechtlich einklagbaren Tatbestand der Aufreizung zur Magersucht: In Analogie dazu müßte man einen Paragraphen über Aufreizung zur Verfettung einführen, ebenso einen über Aufreizung zur
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