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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Vulgarität. Ein Großteil des öffentlichen Lebens würde sträflich.
    Ein Epigramm des Ausonius (4. Jahrhundert) beklagt, selbst auf Grabinschriften sei kein Verlaß mehr, da sie verwittern. Man wisse auch nicht, ob der Buchstabe M Marius, Marcus oder Metellus bedeutet. Dann taucht der enorme Satz auf: »Mors etiam saxis nominibusque venit.« Nie zuvor sind Steine und Namen in einem Atemzug genannt worden.
6. Juni, Berlin-Leipzig
    Nebenberuf: Urinerzeuger
    Zum Thema Urinerzeugung liefert der abgelaufene Tag eine bedenkliche Illustration. Die Ausgangsmaterie für das opus magnum bilden je zwei Magnum-Flaschen Léoville Las Cases und Mouton Rothschild, ich weiß nicht mehr, aus welchen Jahren. Die Szene spielt auf der Residenz von J. B. bei Leipzig mit Neo Rauch, Rosa Loy und einigen Freunden des Hausherrn. Chateau d’Yquem bildet den vorläufigen Abschluß, was beweist, daß der Gastgeber willens war, Niveau in allem zu demonstrieren. Im fortgeschrittenen Zustand sollten weitere Höchstgewächse aufgefahren werden. Dazu scharfe Geschütze, wie die These, wenn man wieder echte Eliten wolle, käme man um die Erschießung der Mittelmäßigen nicht herum. Eine gewisse Herrenabendstimmung ist nicht zu leugnen.
7. Juni, Wien
    So wie es bald eine Kennzeichnungspflicht für Giftstoffe und versteckte Dickmacher in Nahrungsmitteln geben wird, sollte man eine Kennzeichnungspflicht für Inhalte von Meinungswaren einführen. Rote Punkte für Verhetzung, Verdummung und Aufgeilung, auf die Gefahr hin, daß Zeitungen und TV-Sendungen wie roter Regen auf uns fallen.
    Abends im Fernsehen ein Film mit Slavoj Žižek. Darin hört man ihn die These aufstellen, das Über-Ich sei eine obszöne Instanz, die das Ich mit unerfüllbaren Forderungen verhöhnt. Implicite sagt er damit, jede Art von Vorbild sei eine Falle – was leider Unsinn ist, da das Fehlen des Vorbilds (ich nehme es hier als den engsten Verwandten des Über-Ich) zumeist die größere Qualbedeutet. Hört man Slavoj reden, möchte man Nietzsches Wort »Müßiggang ist aller Psychologie Anfang« zitieren, vielleicht sogar Kafkas ominöse Notiz: »Nie wieder Psychologie!«
    Bezeichnend die Hauptszene des Films: Žižek steht in einem Motorboot – und jagt sein Gefährt übers Wasser. Dabei redet er wie besessen von seinen Themen, von Hitchcock bis Lacan – ein Kapitän Nemo, der sich ein U-Boot nicht mehr leisten kann.
    Wahrscheinlich begeht Slavoj, wenn er sich in den Medien so sehr exponiert, denselben Fehler, dessen auch ich verdächtig bin. Aber anders als ich glaubt er, man könne tatsächlich die Autorschaft in der visuellen Dimension fortführen. Das ist pure Illusion. Der autor absconditus wird beschädigt, sobald der manifeste Verfasser sich in Bild-Medien zeigt. Es kommt darauf an, wieviel Selbstbanalisierung ein Autor überleben kann. Das wiederum hängt davon ab, ob er sich seiner Verankerung in seinem Werk sicher ist. Das Wesentliche hat verborgen zu bleiben und darf erst herauskommen, wenn es Literatur geworden ist. Ich denke immer öfter, Slavoj hat die Dosis überschritten. Er kann sich selbst nicht mehr von der Maske des Revolutions-Entertainers unterscheiden, unter der er seit einer Weile um die Welt zirkuliert. Wenn es so weitergeht, wird ihn die Maske überwuchern. In einer Hinsicht ist Slavojs Rolle jetzt schon klassisch: Er dokumentiert, zusammen mit Nanni Moretti, die Aufhebung der Psychoanalyse ins Kabarett.
9. Juni, Wien
    Abends weiter die Vorlesung zu den Götterdämmerungen. Diesmal über Heinrich Heines Geständnisse . Der Fall Heine läßt erkennen, daß es Götterdämmerungen in der ersten Person gibt.
    In den Spätnachrichten die Meldung, daß Peter Rühmkorf im Alter von 76 Jahren gestorben ist. Wer war es, der mir erzählte, Rühmkorf sei ein Patenkind von Paul Tillich gewesen?
    Schicke die redigierte Fassung des seinerzeit auf dem NZZ -Podium Ende April improvisierten Vortrags nach Zürich: Spielen mit dem, was mit uns spielt , mit dem das noble Feuilleton dem Einbruch des Sports Tribut zollt.
11. Juni, Wien
    Abends in der Angewandten über Richard Wagners Götterdämmerung – mit Akzent auf dem Vorspiel der Nornen unter besonderer Beachtung von Brünhildes Liebestod auf Siegfrieds Scheiterhaufen, der den Brand Walhallas vorwegnimmt.
12. Juni, Wien
    In der Schlußvorlesung am Stubenring rolle ich das Semesterthema noch einmal in größeren feuermythologischen Zusammenhängen auf, von der heraklitisch-stoischen Ekpyrosis bis zur

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