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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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da ja die Iren als die größten Nutznießer der EU gelten. Das Elend ist, daß dieNeinsager überall so tun können, als hätten sie nur das vertrackte Vertragswerk von Lissabon abgelehnt, seien aber ansonsten die besten aller Europäer.
    In Wahrheit liegt dem Nein alles mögliche zugrunde, auch Giftiges und Ungestehbares. In Frankreich war es seinerzeit besonders der zähe souveränistische Reflex gewesen, in Verbindung mit dem sehr verständlichen Wunsch, dem alten Staatskasper Chirac eins auszuwischen, zudem ein diffus populäres anti-europäisches Ressentiment. Der französische Nein-Cocktail von 2005 war komplizierter, als ein Leitartikel fassen kann – ein Gebräu aus landeseigenen Widerstandsmythen, anti-brüsseler Trotzgesten, germanophoben Reflexen, ironischen Elysée-Verhöhnungen, bedeutsam-philisterhaften Besserwissereien, konspirationsfrohen Internetaktionen, spätjakobinischem Negationseifer und anarchistischer Freude am Debakel – die Agitationen des Sozialisten Fabius nicht zu vergessen, der sich von der Nein-Welle ins Präsidentenamt tragen lassen wollte.
    Wieso das Hören von großem Tenorgesang oft heilsame beflügelnde Wirkungen hervorruft? Vielleicht weil sich in ihm eine Freiheitserfahrung organisch überträgt. Die Männerstimme, die nach oben keine Grenze anerkennt, zeigt an, wie das Unmögliche ins Wirkliche übergeht. Heinrich Heine soll beim Hören von Rubinis Gesang geweint haben.
14. Juni, Wien
    Geschichte ist für uns in erster Linie das Reich der Enttäuschungen. Das wollen die nicht einsehen, die heute affirmativ hinausposaunen: Die Geschichte geht weiter – als ob dies eine gute Nachricht wäre. In den letzten Jahren sind zwei Dutzend Anti-Fukuyama-Bücher erschienen (unter anderem von Ralf Dahrendorf und Joschka Fischer), fast alle von biederer Tendenz und ohne das geringste Gespür für die interessante Pointe derThese vom Ende der Geschichte. Wer für die Konservierung der Geschichte plädiert, bekennt sich, ohne es zur Kenntnis zu nehmen, zu den kommenden Enttäuschungen – und zu den Illusionen, die ihnen vorausgehen. Die wichtigste Voraussetzung für den Fortgang der Geschichte ist seit jeher die nachwachsende Naivität der folgenden Generationen. Es ist der Anfängergeist, der die Dinge immer wieder von vorne startet. Die Jugend zerstört die Erfahrungen der Älteren durch ihre fatale Fähigkeit, bei Null zu beginnen. Sie entwertet die mühsam erworbenen Enttäuschungen, die doch das Beste waren, was die Alten besaßen. Die ungebrannten Kinder werfen die Weisheit der Eltern auf den Müll. Das einzige, was hoffen ließe, wäre eine Jugend, die durch Mißtrauen wettmacht, was ihr an Enttäuschung fehlt.
    Mit dem Rad die größere Runde an der Donau bis Tulln und zurück. Bin rechtzeitig wieder zu Hause, um a) die Zahnschmerzen, die seit Monaten nie ganz verschwunden waren, wieder mit einer Dosis Ibu niederzukämpfen, b) mir ein Glas Burgenland-Roten zu genehmigen, c) das Spiel zwischen Spanien und Schweden anzusehen, d) speziell für Günther Netzer die Zeitmaschine neu erfinden zu wollen, damit er in seine Spielerzeit zurückreist statt zu kommentieren.
    Was Fatalismus bedeutet, kann man beim Sport erleben – und nirgendwo so klar wie in der Unumkehrbarkeit der Fehlentscheidungen von Schiedsrichtern. Im Deutschen hat man dafür das herrlich absurde Wort »Tatsachenentscheidung« erfunden, das passive Gegenstück zu Fichtes überdrehtem Begriff »Tathandlung«, der ein Vorbote des Hyperaktivitätssyndroms in der Philosophie war. In Wahrheit wird durch die irreversiblen Entscheidungen der Schiedsrichter eine religiöse, genauer eine ontologische Disposition angesprochen – die Bereitschaft zur Unterwerfung unter die Macht des Faktischen. Die Pointe dabei: Die Unterwerfung muß auch dann vollzogen werden, wenn du mit eigenen Augen gesehen hast, daß die Entscheidung falsch war.Das ist ohne die abstrakte Ehrfurcht vor der lenkenden Instanz nicht zu denken, erst recht nicht ohne die Dressur, sich protestlos unter Verfahren und Diktate zu beugen. (Man könnte über eine gemeinsame Wurzel von Rechtsprozeduren, Gottesurteilen und Spielregeln nachdenken.) Nur die Unterwerfung (»Kastration«) löst in den Menschen die »ontologische Reaktion« aus, sprich die Hinnahme eines Resultats, bei welcher der Gedanke an Revision nicht mehr aufkommt.
    Im Licht dieser Überlegungen wird klar, wie abwegig die Versuche sind, die Schiedsrichterrolle durch Torkameras, Videobeweise usw. zu

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