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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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nötig hätte, sich von ihm retten zu lassen. Bei diesem Manöver wird die Grenze sichtbar, jenseits welcher die Umwandlung von Theologie in Allgemeine Immunologie einsetzt. Wenn Gott der schlechthin Nutzlose sein soll, der über dem Sumpf der menschlichen Kalküle schwebt, taucht die Frage nach dem Nutzen des Nutzlosen auf.
    Bei seinen Versuchen zur Ermittlung des unverwendbaren Gottes legt Kierkegaard erstmals die Tatsache offen, daß auch dem Funktionslosen eine Funktion zukommt. Es gewährt eine paradoxe »Geborgenheit« in der äußersten Entsicherung – paradox, weil es im Absoluten keine Geborgenheit geben kann. In einem Nicht-Container ist Enthaltensein nicht möglich. Es gibt kein Leben, das sich zur Ewigkeit aufblasen ließe.
    Kierkegaard geht den Weg des Protestantismus bis ans Ende. Angesichts der für ihn evidenten Unmöglichkeit, die Lebenshaltung des frommen Philisters einzunehmen, der sich einbildet, durch Verträge mit dem Himmel gegen alle denkbaren Risiken gesichert zu sein, wählt der melancholische Denker die Flucht in den Abgrund. Er stößt die Sicherungen im konventionellen Glauben von sich, bis der letzte Risiko-Horizont Konturen annimmt: Nach Preisgabe sämtlicher illusorischer Sicherheiten gewinnt das Subjekt im freien Fall – ja, was eigentlich? Vielleicht nicht mehr als die Genugtuung, mit dem Himmel keine Geschäfte gemacht zu haben. Ob er nicht eben dadurch ein Guthaben im Jenseits erwerben will, ist nicht ganz einfach zu entscheiden. Es wäre jedenfalls ein paradoxes Guthaben, das aus lauter Nichteinzahlungen angewachsen wäre.
    Was Kierkegaard die Einübung ins Christentum nennt, gleicht einer Entwöhnungsübung in bezug auf alles, was fast zweitausend Jahre lang als christlich gegolten hatte. Ihm zufolge wärenur der Christ religiös in Form, der begriffen hätte: Der Glaube ist viel zu absurd, als daß er die Hilfstruppen der Vernunft- und Traditionsargumente zu seinen Gunsten mobilisieren dürfte. Es kommt allein darauf an, an der leuchtenden Absurdität des Glaubens nicht irre zu werden. Am Trainingscharakter der religiösen Form hält der Denker fest.
    Das Innere des redlichen Denkers funktioniert wie eine christliche Juke-Box, in der ein unsichtbarer Mechanismus die bewährten Platten auflegt, der christlichen Sozialisation entsprechend. Nun zeigt sich: Das arme Ich würde ja die alten Lieder recht gerne mitsingen. Doch öffnet es den Mund, bemerkt es, die Überzeugungsmechanik ist defekt. Der Tonarm der Subjektivität springt aus der Rille. Eine feste Burg ist unser G– unser G–.
    Daß Millionen Christen vor unserer Zeit diese Lieder gesungen haben, bedeutet von jetzt an nicht mehr sehr viel. Allesamt könnten sie Somnambule gewesen sein, die sich unter dem Vorwand der Treue zur Überlieferung in selbstgesponnene Täuschungsnetze eingewickelt haben.
    Wach und allein sollst du an den Abgrund treten. Spring, wenn du kannst. Beim Glauben ist jeder der erste.
7. Juni, Karlsruhe
    Zu der gestrigen Ausgabe des Philosophischen Quartetts »Die Künste: überflüssiger Luxus?« mit Wolfgang Rihm und Juli Zeh gibt es seitens des Senders erstaunliche Zahlen: Mit über 600000 Zuschauern und einem Marktanteil von 9,1% war dies die erfolgreichste Sendung seit langem. Die Message ist nicht zu überhören. Das Publikum zieht die freien Themen dem permanenten gehobenen Sozialkunde-Unterricht aus Mainz vor.
    Nach der Meinung der Professionellen in der Redaktion will das Volk immer die Peep-Show, selbst wenn es um Ideen geht. Vorgeblich lechzt es vom Sofa aus nach Konflikt. Noch die subtilste intellektuelle Differenz möchte es als Prügelei ausgetragen sehen. Damit ist die Erwartung bezeichnet, die Rüdiger und ich seit neun Jahren nicht erfüllen.
8. Juni, Karlsruhe
    Denke über einen Aufsatz zum Präsidentenproblem nach, wie es sich nach dem Rücktritt von Horst Köhler darstellt. Jetzt wäre das plebiszitäre Element des Amts hervorzukehren, das durch die Amtsführung Köhlers als eines seiner konstitutiven Merkmale spürbar geworden war. Daher der enorme Fehler, den die Berliner Politiker zu begehen im Begriff sind, wenn sie in der aktuellen Verlegenheit der Bevölkerung einen ihnen genehmen Partei-Lakaien als Nachfolger octroyieren möchten.
    Der Essay würde Horst Köhler als den Bürgerpräsidenten par excellence würdigen und Joachim Gauck als seinen unumgänglichen Nachfolger begrüßen – eben wegen der typologisch konsequenten Sukzession. Zugleich sollte die aktuelle

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