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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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anderswo ein heiteres Gesicht: In Irland erreicht eine satirische Wählerbewegung unter dem Namen »Beste Partei« mit ihrer Forderung nach kostenlosen Handtüchern in Schwimmbädern eine Zustimmung von 34%.
    Deutschland, die Nation von Schülern, sitzt über Besinnungsaufsätzen. In einer bitteren Schelte gegen Horst Köhler zitiert ein gewisser Jacques Schuster den Historiker Jacob Burckhardt: »Nicht jede Zeit findet einen großen Mann, und nicht jede große Fähigkeit findet ihre Zeit.«
    Alles, was auch nicht groß ist, ruft jetzt nach großen Männern, die bei Sturm und Kälte auf der Brücke aushalten. Am größten wäre, wer sich Kränkungen nicht anmerken ließe und den Besudelungen trotzte wie die Mole dem Orkan. Michael Stürmer führt die elegisch stolzen Worte de Gaulles an, als er sich 1946 für 12 Jahre nach Colombey-les-deux-Eglises zurückzog: »Der Mann der großen Stürme ist nicht der für die netten Kombinationen.«
    Dem Mann der Nettigkeit, der eine rauhe Windbö persönlich nahm, ruft man Despektierliches hinterher: Ein realitätsfester Politiker läßt sich nicht aus seinem Posten pöbeln! Wer auf demokratische Polemik nicht gefaßt ist, hätte nach dem Amt niemals greifen dürfen!
    Der Ausgang der Affaire zeigt: Der Präsident wurde ex officio in seiner spontanen Reaktion auf die Angriffe der Berufsempörer menschlich und sachlich isoliert. Er hatte niemanden anseiner Seite, der ihm ein professionelles reframing anbot. Im ganzen politischen Berlin gab es offensichtlich nicht eine Person mit Übersicht, Empathie, Takt und savoir faire. Die Leute, die Horst Köhler nahestanden, empfanden in der Sache selbst zweifellos zu ähnlich, um ihm eine zweite, dritte Sicht auf den Vorgang vermitteln zu können. Im kritischen Moment waren die Maulwürfe im Kanzleramt oder im Adenauer-Haus außerstande, einen schnellen Tunnel zum Schloß Bellevue zu graben. Man gibt vor, ein Land zu regieren, und weiß nicht, wie man rechtzeitig eine Telefonnummer wählt.
    Michael Stürmers geistreiche Meditation über große Rücktritte von Diokletian bis Karl V. krankt an einer optischen Täuschung, da der Autor es für angemessen hält, Fürsten mit Präsidenten zu vergleichen. Jene Männer legten wirkliche Macht nieder, während Horst Köhler von der Ohnmacht zurücktrat, die er im Dienst des Landes nicht ganz sechs Jahre lang auf sich genommen hatte.
    Die stimmigste Konsequenz aus Köhlers Amtsaufgabe wäre jetzt, die Präsidialfunktion abzuschaffen. Ein Amt für symbolische Angelegenheiten würde genügen, mit einem Zeremoniensekretär an der Spitze, nicht viel bedeutsamer als das Musikcorps der Bundeswehr. Wozu mit förmlichem Aufwand ein Staatsoberhaupt suchen, wenn dessen primäre Aufgabe wieder nur darin bestehen wird, alle Arten von Mißachtung auf sich vereinigen?
4. Juni, Interlaken
    Morgen für Morgen ein neuer Niemand.
    Mittags das Interview mit Journalisten der Aargauer Zeitung , der »drittgrößten«, falls Ihnen das etwas sagt.
    In einem unerwartet lebhaften Gespräch entsteht ein Extempore, das den Horizont der aktuellen Psychopolitik aufzeigt – mit Ad-hoc-Ausführungen zu den Zornbanken, zu den Linksparteien als Klärwerken für Affekte, die bei guter Arbeit trübe Wut in helle Selbstachtung umwandeln, und zum konsumistischen Imperativ unserer Zeit: Genieße!
    Abends folgt auf die Vorträge im Versailles-Saal des Hotels das unvermeidliche Gala-Dinner. Zu diesem gehört ein Event-Dessert in der Halle, die vom Veranstalter zeitgemäß zur networking zone deklariert wurde. Dort verwickelt mich eine Netz-Aktive mittleren Alters mit gutem Promi-Auge, dem Gipfel ihrer Konnektivität spürbar nahe, in ein augenglitzerndes Gespräch über Werte und Ausnahmen, bis sie nach einer Weile von ihrem Mann, der ihre Rhythmen offensichtlich präzise abschätzt, zu einem anderen Einsatzort im Netzwerk der Bedeutsamkeit abgeholt wird.
    Das Geheimnis erlebnisreicher Reisen besteht darin, antizyklische Lektüre mitzunehmen. Im aktuellen Fall war es das hinreichend unpassende Buch von Klaus-Michael Kodalle: Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des Wunschdenkens und der Zweckrationalität im Anschluß an Kierkegaard , 1988. Etwas Abwegigeres ließ sich in der Kürze der Zeit nicht auftreiben, doch schien es in jeder Hinsicht Interlaken-geeignet.
    In früherer Zeit besaß ich die glückliche Gabe, vom Wechsel der Umwelt so sehr absorbiert zu werden, daß die neue Umgebung selbst die Botschaft wurde. Damals wären

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