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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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meiden.
    Paul Veyne behauptet in seinem Buch Als unsere Welt christlich wurde , deutsch 2008, Constantin habe in keiner Weise strategisch gedacht, als er religionspolitisch für das Christentum optierte. Das Imperium habe zu seiner Zeit ja über alles verfügt, was es zu seiner kultischen Synthese benötigte – Götter, Priester und Rituale in Fülle.
    Die These erscheint als pure Irreführung, konfrontiert man sie mit den juristischen und religionspolitischen Tatsachen, die Marie Theres Fögen in ihrem Buch Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike ausbreitet. Ihren Ausführungen zufolge befand sich das Reich vor Constantin in einer Phase zivilreligiöser Ratlosigkeit, weil die alten Götter verblaßt waren, indes zahllose Formen neuen Aberglaubens gefährliche zentrifugale Blüten trieben. In Wahrheit näherte sich das Reich einem Zustand kognitiver Unregierbarkeit: In dieser Lage war den Einsichtigen der Zwang zum theologischen Zentralismus deutlich geworden. Also mußte dem amtierenden Caesar eine neue religionspolitische Synthese am Herzen liegen – seine Gesetze zur Wahrsagereibekämpfung machen deutlich, wie aufmerksam er die Front des Symbolischen im Auge hatte.
    Diese gut dokumentierten Befunde läßt Veyne links liegen, wenn er suggeriert, Constantins Wende zum Christentum sei eine rein persönlich motivierte Angelegenheit gewesen – somit nicht mehrals ein Zufall mit weltgeschichtlichen Folgen. Aus seiner Sicht war es eher die Kirche, die ganz bewußt religionspolitische Ambitionen verfolgte, nicht das Reich. Dem kann man zur Hälfte zustimmen, wenn auch Veyne hinsichtlich von Constantins Antrieben einer falschen Spur folgt.
    Warum denn hatte Paulus seine größte Epistel an die Römer adressiert? Weil ihm bewußt war, wo er in letzter Instanz reüssieren mußte. Er hatte sich nur hinsichtlich der zeitlichen Verhältnisse getäuscht. Er rechnete in Jahren, nicht in Jahrhunderten.
    Immer öfter kommen Nachrichten über amtsmüde Amtsträger. Keiner ist darunter, den man nicht verstünde. Anschwellender Null-Bock-Gesang.
    Eine Gesellschaft ohne »Unterdrückung«, besser: ohne Widerstand des Gesetzes, des Realen, der Knappheit, des Konflikts wäre wie eine Erde ohne Schwerkraft oder eine Atmosphäre ohne Luftdruck. Die Gravitation ist die erste Bildhauerin, die alle Körper unter ihrem Einfluß formt. Wir fühlen uns frei inmitten der Schwerkraft, aber unfrei, wenn uns zusätzlich Repressalien auferlegt werden.
    Der Fehler der vulgären Tyranneien besteht darin, zu sehr aufzufallen, indessen eine unmerkliche Tyrannei, wenn sie denn denkbar wäre, wie eine Art von Freiheit erlebt würde.
    Cicero: »Der Beamte ist ein sprechendes Gesetz, das Gesetz ist ein stummer Beamter.« De re publica III, 1.
15. Juni, Karlsruhe München
    Schon liegt die erste Besprechung zu Scheintod im Denken vor, ein wenig konfus, ein wenig daneben. Der Rezensent meint es zu gut und nicht gut genug.
    Noch einmal zum Prinzip Gratis. Am 8. Mai 1970 schlug die Stunde der Wahrheit für die Idee der Umverteilung in der gauchistischen Konsumgesellschaft, in der jeder nach seinen Bedürfnissen zu versorgen wäre – gegebenenfalls am aktuellen Bedarf vorbei. Damals plünderte eine Gruppe von Pariser Anarcho-Maoisten die Delikatessenhandlung Fauchon an der Place de la Madeleine und verteilte Gänseleberterrinen und Kaviardosen an die Bewohner des von afrikanischen Arbeitern bewohnten Viertels Jory-sur-Seine, die nicht wußten, wie ihnen geschah.
    Die Aktivisten trieben den Traum der Träume zur allgemeinen Faßlichkeit voran. Sie wollten ja ihren Überfall auf den Gourmet-Tempel nicht als Raub, sondern als »Expedition«, als »Aktion«, als »Befreiungstat« für Appetite verstanden wissen. Unter dem Prinzip Gratis sollte es endlich das Seltene für die vielen geben, das Überflüssige für die meisten und das Unmögliche für alle. Nur die richtig verkehrte Welt wäre die wahre. Die Angestellten entlassen ihre Chefs, das Gras frißt die Kuh, die Oligarchen stehen Schlange für eine Kelle Suppe, und die Politiker lassen sich vom Volk vertreten.
    Man soll nicht verschweigen, daß andere Studenten, weniger fröhliche, damals in die Fabriken gingen wie säkulare Arbeiterpriester, hartgegerbte Idealisten, die Mao-Bibel in der Tasche. »Das Auge des Bauern sieht richtig«, hatte Mao doziert. Sie hatten den passenden Ort gewählt, um selber richtig sehen zu lernen. Binnen kurzem verloren die meisten

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