Zeilen und Tage
die Illusion, für ihre Schützlinge etwas bewirken zu können – nicht, weil die Umstände gegen die Träume sprachen, sondern weil die Träume des Volkes selbst alles mögliche verlangten, nur nicht, von übermotivierten Phantasten erlöst zu werden.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts prägte Joseph de Maistre das Wort rienisme, das später vom Erfolg des Worts nihilisme verdunkelt wurde.
Abends trifft sich in einem kleinen italienischen Restaurant auf der Amalienstraße, Il Torquio, nahe dem Hauptgebäude der Universität, das Sepp Gumbrecht während seines Münchener Aufenthalts favorisierte, ein Freundeskreis, um den 61sten Geburtstag des Gastgebers zu feiern. Die Runde bei Tisch ergibt so etwas wie Sepps Biographie, dargestellt in alten und neuen Freundschaften, beginnend mit einer alten Dame, die eine Lehrerin von ihm auf dem Gymnasium gewesen war. Oliver Primavesi, Graecist an der Münchner Universität, berichtet, daß man demnächst über ein nicht unbedeutend verändertes Bild der Vorsokratiker verfügen wird. Neue Quelleneditionen aus lange unbeachteten Straßburger Archiven stehen bevor, die zu weitreichenden Revisionen führen könnten. Erstes Beispiel hierfür ist eine von ihm besorgte Edition der Physika des Empedokles.
16. Juni, Karlsruhe
Ob es nicht ein Märchen von durchschaubarer Tendenz ist, wenn gesagt wird, das Christentum habe die Empathie unter den Menschen gefördert? Träfe das zu, hätte Dante als bester Kenner der allerchristlichsten Hölle die Pflicht gehabt, zu erklären, wie es kommt, daß wir Europäer, Christen und Nicht-mehr-Christen, nicht allesamt nachts wach liegen und die ewigen Todesschreie der Gefolterten durch den Boden zu uns heraufdringen hören.
Die Wahrheit über die Funktion der vorgeblich die Einfühlung fördernden »Religion« geht eher aus der Beobachtung hervor, wonach die imperiale Phobokratie sich nach der christlichen Wende Constantins zu unerhörten Grausamkeiten steigerte. Unter den ersten christlichen Kaisern setzte im vierten Jahrhundert eine Brutalisierung der Strafgesetzgebung ein, die jedem kultivierten Römer der Cicero-Zeit kalte Schauer über den Rücken gejagt hätte. Da regnete es Höchststrafen für alles mögliche auf das Volk herab. Der Wille zum Schlimmsten brauchte nur zwischen den vier absoluten Abscheulichkeiten zu wählen, die daschristlich redigierte Rechtswesen im Angebot führte, der Kreuzigung, die traditionell als summum supplicium galt, der Lebendverbrennung, der Zerfleischung durch wilde Tiere in den Arenen oder dem Eingenähtwerden in Ledersäcke, die man in Schlangengruben aussetzte.
Die Wahrheit ist: Das Christentum stellt für das Imperium das neue Verfassungsorgan Hölle bereit. Wer Menschen in Großgesellschaften zusammenführen muß, ist zum politischen Gebrauch der Furcht verurteilt. Vor der Moderne anderes zu wollen, hätte bedeutet, Unmögliches zu postulieren. Spiritualität ohne phobokratischen Beigeschmack ist eine Option, die nicht vor dem 18. Jahrhundert in kleinen liberalen Zirkeln Europas praktikabel wurde – so sehr sie heute als das Selbstverständliche erscheint. Aber noch immer weigern sich die schönen Seelen, zu begreifen, wieso »Religion« an der Macht per se das Angstregime bedeutet.
Die Terrorismen des 20. Jahrhunderts haben diese Verhältnisse offengelegt, indem sie vorführten, daß keine imperiale Integration ohne phobokratische Mechanismen zu erreichen ist. Was wir seit Jakobinertagen den Terror nennen, entsprang der Säkularisation der Angst – in einer Zeit, als die sich modernisierende Religion selbst begann, von Angst auf Trost umzustellen. In diesem Punkt waren Bakunin und die Anarchisten im 19. Jahrhundert viel mehr auf der Höhe der Sache als Liberale und Sozialdemokraten. Sie trieben die Übertragung der sozialen Synthesis vom Kanzelschrecken auf die Botschaft der Bombe resolut voran. Auf ihrer Linie gelang Lenin im September 1918 die vollständige Explikation des phobokratischen Komplexes, indem er den Roten Terror als den wahren Weg zur Herrschaft des Guten diktierte.
Vor diesem Hintergrund wäre neu zu erläutern, was der Gebrauch des Schreckens im Islamismus bedeutet: Als Zwitter aus altreligiöser Phobokratie und säkularer Drohungspolitik zerstört er mit der Zeit die eigenen Voraussetzungen – denn auch die Nationen in seinem Einflußraum greifen jetzt die neuen erotisch-massenmedialen Formen der sozialen Synthesis auf, diedas ältere phobokratische Regime wenn nicht ganz
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