Zeilen und Tage
mitgebrachte Lektüren die Sünde gegen den Geist des Reisens gewesen. Mit den Jahren wuchs die Immunität gegen Ortswechsel, so daß es sich immer mehr empfahl, eigene Themen mitzubringen, je unpassender desto besser. Für diesmal schien es mir hinreichend unwahrscheinlich, am Fuß der schneebedeckten Jungfrau über Kierkegaards Kritik des konventionellen Christentums nachzudenken.
Wenn man weiß, daß Nutzlosigkeit eines der diskreteren Attribute des Absoluten ist, nimmt das Wort »Eroberung« eine paradoxe Färbung an. Das Nutzlose erobern hieße dann, sich von ihm erobern lassen. Wie alle höhere philosophisch-theologische Theorie läuft auch diese auf Subjektwechsel hinaus. Nicht ich lebe, sondern das Über-Du lebt in mir. Kierkegaard ist allerdings zu mißtrauisch, um zu denken, er könne sein eigenes Ich geradewegs gegen das absolute Selbst umtauschen. Er sträubt sich gegen die mystische Versuchung, mit Gott zu fraternisieren.
Kodalle praktiziert in seinem Buch eine großzügige Form von Gastfreundschaft für die Ideenwelt von Paul Feyerabend, der in der Einleitung als Überraschungsgast auftaucht. Was seine Rolle bei dieser theologischen Vergewisserungsübung sein soll, ist nicht von Anfang an erkennbar, verdeutlich sich aber mit der Zeit.
Feyerabend setzt den Ton für Kodalles Unternehmen, indem er behauptet, Objektivismus sei nichts als ein Ausdruck der kleinbürgerlichen Angst vor der Freiheit. Sie motiviere die hündische Unterwürfigkeit der modernen Menschen in bezug auf die Wissenschaft, die nichts anderes als utilitaristische Kategorien kennt. Sie sieht ihre Mission darin, die Sklaverei des Nutzens bis in die letzten Winkel auszubreiten. Die Emanzipation beginnt, sobald man den Wissenschaftsglauben als den schlimmsten Freiheitsvertilger durchschaut hat.
In den »Hundehütten« Carnaps und Poppers gibt es kein menschenwürdiges Leben. Der Trennung von Staat und Kirche soll endlich die Trennung von Staat und Wissenschaft folgen.
Bei der Wiederbegegnung mit Feyerabends anarchoïden Thesen fällt mir die abgrundtiefe Veränderung der Epochenstimmung zwischen seiner Blütezeit und heute auf. Was der Kritiker des Methodenzwangs seinerzeit vorbrachte, klingt inzwischen so fern wie eine Botschaft aus dem epistemischen Neolithikum, in dem dissidente Jäger mit Pfeil und Bogen auf autoritäres Großwild schossen. Zu seiner Zeit bereitete es Jungtheoretikern auf der Suche nach einer Nische im System der »Diskurse« eine diabolische und juvenile Freude, vermeintliche metaphysische oder empiristische »Gewißheiten« zu erlegen.
Dreißig Jahre später würde man zu dem erregten Wildbeuter sagen, beruhig dich! Da ist weit und breit keine Gewißheit mehr, mit deren »Überwindung« du deinen Spaß haben könntest. Längst leben die Heutigen im Lande Bodenlos, wo man schon für etwas mittelfristig Haltbares dankbar wäre wie früher für ein ewiges Evangelium.
5. Juni, Wolfsburg
Man hätte eine Sonne werden sollen, und ist ein Sparbuch geworden.
In bezug auf das Gute, von dem du vormals umschlossen warst, gab es nie eine Wahlfreiheit. Steht denn der Fötus vor der Alternative, mit dem Milieu »Mutter« zu kommunizieren oder es zu verneinen?
Durch den Exodus aus dem ersten Ganzen wird eine exzessive Alternative aktualisiert: entweder das verlorene Beste wiederfinden zu wollen oder die Suche danach aufzugeben. Wer nicht suchen will, beruft sich oft auf die gesunde Vernunft, die suggeriert, man habe weder Zeit noch Kraft, Unmögliches zu begehren.
Gläubig sind nur die Impossibilisten. Sie bilden die wahre Internationale, die das Unmögliche fordert oder nichts. Die übrigen stellen die Mehrheit der Philister, die nicht investieren, wo sie nicht sehen, wie ein Geschäft zu machen wäre.
Nach Kierkegaard wäre ein Gott, an den zu glauben den geringsten Nutzen brächte, von vornherein das übelste der Trugbilder. Nur der Gott, der zu nichts dient, schon gar nicht zu deiner Erlösung, könnte der wahre und wirkliche sein. Unser Verhältnis zu ihm wäre kein anderes als das des verlorenen Sohns zum Vaterhaus – allerdings ohne Aussicht auf ein Heimkehrfest mit fetten Hammeln überm Feuer. Allein das Nutzlose verdient, daßman zu ihm aufblickt, da es durch keine Transaktion getrübt und durch keine Verwendung erniedrigt wird.
Kierkegaard experimentiert mit einer Verzweiflung, die älter ist als der fromme Glaube. Er fragt nach einem Gott, der auch dann noch Gott wäre, wenn kein Sünder existierte, der es
Weitere Kostenlose Bücher