Zeilen und Tage
Ausrichtung an der Täterlogik keinen Zweifel: Die Erzählperspektive ist die Botschaft. Ja, die Terroristen, die tun was!
In den Textpartien Ulrike Meinhofs hört man die am meisten bezeichnende Phrase der siebziger Jahr wieder: »Ich halt das nicht aus.« Allesamt waren wir damals Leute, die lernen wollten, dies und das nicht auszuhalten. Die Devise war, die eigene Sensibilität zur Waffe machen. Daraus ist heute eine undiagnostizierte Epidemie geworden: Der Wille zur Tyrannei der Empfindlichkeit gehört zur Grundausbildung jeder angreifend-angegriffenen Minderheit.
3. Oktober, Karlsruhe
Ernest Gellner macht aufmerksam, worin die katholische Gegenreformation und der Kommunismus konvergieren: Beide haben sich als die größten Hindernisse gegen Tendenzen zur Entwicklung einer selbstbewußten Zivilgesellschaft ausgewirkt. WoKatholiken und Kommunisten an der Macht waren, ist bis heute keine Citoyenkultur entstanden.
Der letzte Trostgrund ist in der Annahme eines transzendenten Beobachters zu finden. Für alle Verstrickten liegt die Erbauung im Gedanken an eine losgelöste Drittheit.
Psychopolitische Hypothese: Hochkultur beginnt damit, daß Menschen lernen, quasi nach Belieben Empathie auszuschalten und wiederanzuschalten. Was Kriminalpsychologen gern als ein Merkmal von psychopathischen Persönlichkeiten hervorkehren, den unberechenbaren Wechsel zwischen einfühlendem Charme und größter Gefühlskälte, ist in Wahrheit jeder höheren Zivilisation inhärent – nicht einmal der Buddhismus ist hiervon ausgenommen. Die hochkulturellen Individuen haben am Kippschalter ihres Weltzugangs die Wahl zwischen den Positionen »Empathie ein« – im Umgang mit Freunden, Landsleuten und Glaubensgenossen – und »Empathie aus«, wenn es um Barbaren, Feinde und Andersgläubige geht. Diese Struktur erreicht bei uns ihre Kristallisation spätestens in Bernhard von Clairvaux’ Aufrufen zum Krieg um die Heiligen Stätten.
5. Oktober, Grignan
Den Schmerz wie ein stilles Haustier zu halten. Baudelaire nennt den Mitbewohner seiner Seele »ô ma douleur«. Er reicht dem seltsamen Dauergast die Hand: Komm her, halt still, gemeinsam kehren wir dem Lärm den Rücken. Nun sehen wir die sanfte Nacht in abgetragenen Kleidern über den Himmel wandern.
Bei Norbert Bolz eine schöne Idee: das Eigentum sei als »Exoskelett« des Individuums aufzufassen. Das Wort verwendet man sonst für die Hülle von Insekten oder weichen Tieren mit harter Umschalung.
Für Aristoteles ist der Träger des Strebens nach Wahrheit allein der spoudaios, der tugendhafte bemühte Mensch, der Ernstes ernst zu nehmen willens ist. Der Ernst-Vernünftige verkörpert Legitimität nicht aus der Herkunft, sondern aus der immer aktuellen Tugend. Hiermit kommt die philosophische Utopie des erwachsenen Menschen in die Welt, des Menschen, der sich der legitimen Sorge frei geöffnet hätte.
Wie sehr schon Goethe von der Besorgnis um die verblassende kulturelle Legitimität umgetrieben wird, zeigt sich an seinem desperaten Versuch, den Erzusurpator Faust, den haltlosen Niemandssohn, in letzter Minute als einen Mann zu präsentieren, von dem sich sagen läßt, er habe immer strebend sich bemüht. Der alte Herr von Weimar würde sich nicht zeitlebens mit dem Faust geplagt haben, hätte er nicht gespürt, daß die Gefahr von den herrenlosen Hunden ausgeht.
Ob der Unglücksbundespräsident Wulff in seiner Rede zum 3. Oktober die höchsten Banalitätserwartungen erfüllt hat? Er hat sie übertroffen. Einen historischen Gipfel gedankenloser Korrektheit erreichte er mit der jetzt überall zitierten These, der Islam gehöre zu Deutschland – ein Satz, der seiner Konfusheit wegen alle möglichen Interpretationen zuläßt. Ist es ein freundliches Inklusionsangebot? Ist es eine haltlose Anbiederung? Ist es eine mutwillige Verdrehung der historischen Tatsachen? Ist es der Ausdruck eines frommen Wunsches? Was das Verbum »gehören« bedeuten soll, bleibt fahrlässig unbestimmt. Gehört der Islam zu Deutschland wie der Daumen zur Hand oder wie der OP zur Klinik oder wie der Crash zum Autorennen oder wie Goethe zur Allgemeinbildung oder wie der Tod zum Leben? Das Präsidentenwort ist eine mereologische Sumpfblüte, die mehrere miteinander unverträgliche Varianten des Teil-von-etwas-Sein-Könnens gleichzeitig anspricht. Ist man erst einmal auf dieser schiefen Eben gelandet, kann man mit ebensoviel Recht sagen, die Hand gehöre zum Daumen, das Rennen zum Crash, das Leben zum Tod und
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