Zeilen und Tage
Vertrauen geben die Veranstalter selbst es zu, Solidarität ist in Polen kein großes Thema mehr.
Vortragstage wie dieser erweisen sich regelmäßig als Geduldsproben. Sie haben etwas von Schülerkonzerten, bei denen man den jungen Solisten ein aufmunterndes Gesicht zeigen sollte, nur daß hier die Spieler alles andere als junge Begabungen sind.
Pierre Manent führt den Gedanken aus, wonach die Europäerdas Vertrauen in die kollektive Aktion verloren haben – mehr noch: dem Gang der gemeinsamen europäischen Entwicklung liege eine Utopie der Entpolitisierung zugrunde. Ivan Krastev spricht über die Doppelgesichtigkeit des »Kapitalismus«: zum einen sei er ein selbstzivilisierendes Transaktionssystem, zum anderen eine Dynamik, die ältere Moralen und Lebensformen selbstdestruktiv parasitiert. Scott Lash referiert über die Beziehungsökonomie der Chinesen, die so dicht gewoben sei, daß sie einen expliziten Diskurs über Solidarität weder kenne noch nötig habe: Conduct comes first. Immanenz, Effizienz und Prozeduralismus bestimmen alles.
Was die Europaskepsis angeht, bringt Gianni Vattimo die Sache auf den Punkt: Es sind letztlich nur die Starken, Deutsche und Franzosen, die auf Einheit und Kohärenz Europas besonderen Wert legen, während die Schwachen keine große Synthese brauchen und wollen.
Bemerkenswert an Vattimos Ausführungen war eine Reflexion über den Zusammenhang von Macht und Sprache. Wenn wir zugeben, daß alle Sätze fürs erste nicht mehr sein können als irrtumsverdächtige Äußerungen, die wir mit Anführungszeichen wiedergeben – so stellt sich die Frage nach der Wahrheit eines Satzes in der folgenden Form: Wer hat die Autorität, die Anführungszeichen zu eliminieren? Anders formuliert: Wer verfügt über die verifizierende oder behauptende Gewalt? Letztlich verbirgt sich in jedem affirmativen Satz, der kein Zitat sein will, das Problem der Vollmacht. Wissentlich oder unwissentlich greift jeder Sprecher, der seine Rede ohne Anführungszeichen vorträgt, nach der Krone der Autorität.
Aus dieser Überlegung ergibt sich eine Neudefinition der Lüge: Wenn ich in täuschender Absicht sage: »Es regnet«, obwohl es nicht regnet, habe ich mir unrechtens die Autorität angemaßt, die fälligen Zitat-Zeichen zu tilgen. Mißtrauen richtet sich gegen Personen, die man beim betrügerischen Tilgen der Anführungszeichen ertappt hat. Eine solche Tilgung reicht tiefer als das Plagiat.
Plato, Paulus, Ponzi
Versuch über den Kettenbrief
a) Über Nachfolge-Logik im allgemeinen: zur Theorie der Apostolate
b) Über Expansionismus überhaupt
c) Missive und Missile: Sendung und Geschoß
d) Die Postkarte und das Pyramidenspiel oder:
Derrida trifft Madoff
e) Kreditspiralen: Schulden in die Zukunft tragen
f) Sein und Zeit reloaded: Die Erschöpfung des Geldes und die Renaissance des Logos
g) Zeitstiftungen: Zurückzahlungszeit
Rachezeit
Regenerationszeit
Missionszeit
Feldzugszeit
h) Jenseits des Projekts: Warum das Konzept »Projekt« zu schwach ist, um das ganze Feld des antizipierenden Verhaltens abzudecken (Versprechen, Planen, Träumen, Prognostizieren)
12. Oktober, Karlsruhe
Es war eine von Nietzsches großen Intuitionen, die Geschichte des machthabenden Monotheismus in einem von Menschen verübten Gottesmord enden zu lassen. Jan Assmann ging über Nietzsches Einsicht einen Schritt hinaus, indem er zeigte, wie schon der Monotheismus im Theozid begonnen hatte: mit der Auslöschung der »anderen Götter« durch den Einen.
In der Geschichte der Gottesmorde spiegelt sich die Zentralisierung und Verinnerlichung des Opfers.
13. Oktober, Karlsruhe
Semestereröffnungsfeier mit der üblichen Ansprache des Rektors an die Erstsemester sowie die nur selektiv präsente Hochschulversammlung – über den Geist des akademischen Orts, die sokratischen Absencen und Platos folgenreiche Idee, dem Denken in der Akademie eine Herberge zu geben. Die älteren Semester lächeln schon über diese Übung, doch behaupte ich unbeirrt, man darf es sich nicht nehmen lassen, einmal im Jahr den Gründungsmythos zu erzählen.
14. Oktober, Karlsruhe
Im Rahmen des Diplombürger-Seminars die erste Hälfte des Exposés zu Die neue Wissenschaft der Psychopolitik vorgetragen.
15. Oktober, Karlsruhe
Der Blitz schlägt ein. Hermann Scheer ist gestern in einer Berliner Klinik gestorben, 66jährig. Nun gehen auch die Gleichaltrigen dahin. Als Todesursache wird eine unbemerkte Herzerkrankung angegeben. PW, der heute Abend wieder
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