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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Thesen mit jedem Tag langweiliger durch die Blätter schleppt: Hatte etwa das Habsburger-Reich so etwas wie Integration nötig? Keineswegs, denn da es eine Konstruktion auf transzendenten Grundlagen darstellte, vermochte es den Völkern die Inklusion von oben anzubieten. Der Vielvölkerstaat versammelt, versöhnt und unterdrückt, er integriert nicht. Ist aber das überhöhte politische Gebilde in die Nationen zerfallen, beginnt das Zeitalter der einsprachigen Unbarmherzigkeit. Nun wollen die Nationalkulturen das Ihre mit allen Mitteln geltend machen. In der hysterischen Integrationsdebatte von heute hört man noch immer das Echo der Brutalität, die nach dem Verlust der Inklusion von oben um sich griff.
    Wenn Argumente aus verschiedenen Zeitaltern aufeinandertreffen: Soeben gibt eine Umfrage den Befund bekannt, die großeMehrzahl der über heute 65jährigen hierzulande fühlten sich »kerngesund« und »fitter denn je«. Gleichzeitig wehren sich Gewerkschaften wie Sozialdemokraten mit Händen und Füßen gegen die realistische Anhebung des Rentenalters mit der ergreifenden Behauptung, schon mit 60 seien die Arbeitnehmer völlig verschlissen.
24. September, Karlsruhe
    Wohltuend streng die Urteile von Stephan Wackwitz in der heutigen Welt über den Walter-Benjamin-Kitsch, der seit fast einem Vierteljahrhundert die humanities diesseits und jenseits des Atlantiks umnebelt. Rettet ihn vor seinen Fans ist der Aufsatz betitelt, man schließt sich der Forderung auf der Stelle an. Nur möchte man die Bedingung daran knüpfen, zuvor Benjamin vor sich selbst zu retten, insbesondere vor seiner Geheimnistuerei und seiner ungelüfteten Sentimentalität, die ihn im kritischen Augenblick unfähig machte, zwischen messianischer Hoffnung und Massenmord zu unterscheiden.
    Zu den ungeschriebenen Büchern: Herbert Marcuses Eros and Civilisation wurde ein Erfolg, der weltweit ausstrahlte – mit welcher Berechtigung sei dahingestellt. Immerhin ist Marcuses Gedanke akzeptabel, wonach die Härte des »Realitätsprinzips« sich dank der modernen Technik mildert. Das potentiell viel wichtigere Buch Thymos and Civilisation fand nie seinen Autor. Fukuyama hätte es beinahe vorgelegt, doch verpaßte er die Chance, indem er die Materialien zu dem Werk in seinem hochtönenden Traktat über das Ende der Geschichte versteckte – neben Spenglers Untergang des Abendlandes der Anwärter auf den Titel des meistzitierten ungelesenen Buchs des 20. Jahrhunderts.
    Kriegsbilder:
    Man schreibt das Jahr 1916 (?): Ernst Jünger möchte sich ausdem abgerissenen Fingerknochen eines toten Kameraden in einem Schützengraben an der Westfront eine Zigarettenspitze anfertigen lassen. Er verzichtet auf die Idee, weil sich noch Reste von verwesendem Fleisch an den Knochen befanden.
    Man schreibt den 23. September 2010: Jürgen Trittin verläßt eine Podiumsdiskussion in Hannover, nachdem ein soeben erfolgtes Farbtortenattentat seinen Anzug verunziert hat. Er geht nicht von der Bühne, weil der Wurf selbst ihn destabilisiert hätte, sondern weil seine Gesprächspartnerin, eine Berufsjugendliche mit einer beachtlichen Sammlung radikaler Phrasen im Kopf, sich weigerte, die Attacke zu mißbilligen. Vielmehr wollte sie in dieser eine »legitime Aktion« des Andersdenkens erkennen.
    Die Wanderdüne der Unmenschlichkeit, täglich versetzt, war nach fast einem Jahrhundert in dieser Position – und am Tag danach, in den Zeitungen, schon wieder ein Stück weiter.
    Joschka Fischer zog sich bei einem analogen Anlaß geschickter aus der Affaire: Als Opfer eines Farbbeutelangriffs bei einem Parteitag der Grünen 1999, bei dem er ernsthafter verletzt wurde, spendete er den damals getragenen Anzug, rot befleckt, dem Haus der Geschichte in Bonn – laut seiner Auskunft nach Aufforderung durch dessen Kuratoren. Von Fischer lernen heißt begreifen, wie man noch in der Demütigung einen Punkt markiert.
26. September, Wolfsburg
    Die junge Geliebte von Louis XV., Jeanne Antoinette Poisson alias Marquise de Pompadour, nannte in ihrem erstaunlichen Brief an Montesquieu aus dem Jahr 1751 die Höflinge von Versailles »Automaten« – wohl eines der frühesten Beispiele für den Übergang der Theatermetaphern aus dem vorigen Jahrhundert zu den Maschinenphantasien ihrer eigenen Zeit. Möglicherweise hatte die geniale junge Frau gelegentlich den automatischen Flötenspieler oder die automatische Ente von Vaucanson aus demJahr 1738 gesehen. Daraufhin wurde ihr klar, was für ein Spiel in der

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