Zeilen und Tage
in einer neuen Inkarnation. Die Inder haben die moralische Kausalität als den karmischen Input der Existenz auf den »Begriff« gebracht. Was aber, wenn die Taten den Täter immer öfter schon zu Lebzeiten einholen? – so wie wir es in unseren Tagen erleben, wenn fröhliche Mörder vom Typus Saddam Hussein oder Miloševi´c auf dem letzten Abschnitt der Flucht vor ihren Taten von deren Konsequenzen niedergestreckt werden.
Man könnte sagen, das Schicksal nimmt in solchen Fällen eine stärkere »karmische Krümmung« an, es holt die Flüchtenden ein, bevor sie sich in die Unbelangbarkeit zurückziehen. Mag sein, daß dies ein Merkmal ist, das zur moralischen Signatur unseres vom Abenteuer der Synchronie bestimmten Zeitalters gehört – falls nicht wieder Verhältnisse folgen, in denen größte Übeltäter ungeschoren davonkommen.
Es wäre von Interesse, zu erfahren, zu welchen Folgen die Anwendung dieser Überlegungen auf eine Figur vom Schlage Henry Kissingers führen müßte. Was sollte aus ihm werden, wenn die Wahrheit über manche seiner dubiosen Aktionen beweiskräftig offengelegt würde? Die Wirkung der Enthüllungen entspräche der eines Hausarrests, der den Kandidaten nötigte, den Rest seines Daseins in den Fußfesseln einer entehrenden Erinnerung zuzubringen.
29. September, Wien
Herbststilleben auf dem Schreibtisch: Die Visitenkarte eines Taxifahrers aus der Balagne, zwei Eicheln aus der Estremadura, eine zerkratzte Fahrradbrille, eine Bordkarte Strasbourg-Bastia.
Der US-Verfassungsrichter Oliver Wendell Holmes, 1841-1935, soll gesagt haben: »Judges are not independent mouthpieces of the infinite …« So redete der Pragmatismus in seinen gebildeten Anfängen, als die down-to-earth-Vernunft noch nachbarschaftlich an die metaphysische Überlieferung rührte.
1. Oktober, Karlsruhe
Große Werke fallen uns vor die Füße wie Aerolithe – Luftsteine aus einem unbegreiflichen Himmel. Du schaust nach oben und willst wissen, aus welcher Wolke der Blitz »Ereignis« niederfuhr.
2. Oktober, Karlsruhe
Samstagmorgen-Misanthropie. In der Schlange beim Bäcker keine Spur von Wohlwollen für diese spät aufgestandenen babbelnden Semmelkäufer.
Ontologie im Kasperltheater. Nichts ist so wirklich wie das Krokodil, wenn es den armen Kasper frißt, und niemand so nahe am Wesen der Dinge wie das junge Publikum, das bittere Tränen weint, während die sympathische Puppe im Rachen des Untiers verschwindet. Das »Sein« ist die Domäne der Rechtshemisphäriker, die man je nach Kontext als Idealisten, Realisten, große Kinder oder Idioten bezeichnet.
Von Suhrkamp ein Belegexemplar der 7. Auflage von Du mußt dein Leben ändern .
Zu den sehr sichtbaren Vorzügen von Peer Steinbrück braucht man nicht viel zu sagen, wenn er auch gelegentlich zu sehr seinem Hang folgt, den Kabarettisten der schwarz-roten Jahre zu geben.
Er bringt es zu einer regelrechten Verfehlung, wenn er schon heute, gerade zwei Jahre post eventum – in der nicht ganz glaubhaften Haltung eines aus dem Geschäft ausgeschiedenen Politikers –, seine Erinnerungen an den kritischen Moment der Finanzkrise im Herbst 2008 preisgibt: Er scheut nicht davor zurück, das gefährliche Geheimnis auszuplaudern, daß Angela Merkels und sein eigenes Versprechen, die Guthaben der deutschen Sparer seien sicher, auf einem Bluff am Rande des Abgrunds beruhten.
Verantwortliche Politiker von früher nahmen solche Wahrheiten mit ins Grab, ihre vorzeitige Bekanntmachung hätte man als Hochverrat verurteilt. Sie hätten erst bei der Öffnung der Archive in einem Respektsabstand von 50 Jahren dargelegt werden dürfen. Wer den Bluff als Mittel der Politik für nötig hält, mußdie Nerven behalten und der Versuchung widerstehen, in die Ehrlichkeit zurückzufallen. Es ist eines, aufrichtig über Krisenmanagement zu reden, es ist etwas anderes, den Kartenhauscharakter der Politik und ihre Angewiesenheit auf Täuschung und Hypnose bloßzustellen.
Aus Thomas Asbridges Werk über die Kreuzzüge erfährt man, daß das Wort »Kreuzzug« eine Erfindung des 19. Jahrhunderts war, indes das Mittelalter selbst seine Expeditionen nach Jerusalem mit dem schlichten Wort »iter«, der Weg, bezeichnete.
20 Jahre deutsche Einheit. Sechs Jahre Zuwachs bei der durchschnittlichen Lebenserwartung in den neuen Bundesländern, 1600 Milliarden Euro Transfergelder, 75 Prozent Enttäuschung.
Der Baader-Meinhof-Komplex : Der Film von 2007, den jetzt das Fernsehen zeigt, läßt hinsichtlich seiner
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