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Zeilen und Tage

Zeilen und Tage

Titel: Zeilen und Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Sloterdijk
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Minute ermöglicht worden war. Künftig sollte kein Nicht-Deutscher mehr deutscher Beamter werden können. Der Bastard wußte Bescheid: Es kommt darauf an, die Tür zu verschließen, durch die er sich selbst die Legitimität erschwindelt hatte.
    Warum spüren so wenige die Schande, daß man uns erst etwas von der Existenz der Spiegelneuronen erzählen mußte, bevor wir bereit wurden, wieder an die Macht und Wirklichkeit der Empathie zu glauben? Manchmal muß man die Welt umrunden, bevor im Alltäglichen die wahre Fülle sichtbar wird. Die Umformulierung humaner Tatsachen in den Jargon der Neurowissenschaften entspricht einer Weltumrundung – wobei anzunehmen ist, daß viele draußen im Nervengerede hängenbleiben und nie mehr nach Hause kommen.
22. Oktober, Karlsruhe
    Was »Bastarde« für die »Kultur« leisten: Sie erweitern die Grenzen des Ausdrucks, indem sie aufgrund fehlender Hemmungen explizit machen, was den Konventionen gemäß ungesagt bleiben sollte – auf die Gefahr hin, daß sie verborgene Abscheulichkeiten und ungeschriebene Greuel in manifeste und hingeschriebene verwandeln. An denen knüpft die nächste Generation von Rücksichtslosen an.
    Von Plutarchs Opportunismus kann man sich ein Bild machen, wenn man liest, daß er Alexander dem Großen das Beiwort philosophótatos, der allerphilosophischste, verlieh.
24. Oktober, Detmold
    Im Zug übers Land. Über den herbstfarbenen Wäldern ein Wolkentheater, als ob die Saurier erst kürzlich ausgestorben wären.
    Durs Grünbein hat für das Gehirn eine lyrische Heldenrolle entdeckt. Die Erkundung der Überempfindlichkeit hat gerade erst begonnen. Bei schwachen Nerven und aufgeplatzten Vokabularen wird Enormes möglich. Lese mit Freude einige Stücke von ihm wieder – man erfährt aus ihnen etwas über das Menschenrecht auf Satzbau. Nur der Lyriker darf mehr Biologie wagen.
    Die Autofahrt von Kassel nach Schwalenberg, wo ein mehrtägiges Grünbein-Festival in Gang ist, gleicht einer Scharade, bei welchem der Begriff »Abgelegenheit« zu erraten gewesen wäre.
25. Oktober, Karlsruhe
    Paläontologen von der University of Pennsylvania haben die Hypothese aufgebracht, die Möglichkeit der Menschwerdung sei vor 2,4 Millionen Jahren durch eine mutative Schwächung der Kiefermuskelentwicklung freigegeben worden. Die wesentliche Prämisse für humantypische Gehirnvolumenvergrößung bestand darin, daß nun die Kiefermuskeln – die beim Gorilla die Stärke eines Bizeps erreichen – atrophieren und dadurch aufhören, die Schädelknochen zu früh in ihre Endposition zu pressen. Die Lockerung des Unterkiefers ist die anatomische Voraussetzung der Hominisation. Von da an ist das Vormenschtier dank Raumgewinn für Neocortex und Kehlkopfspiel unterwegs zur Sprache.
30. Oktober, Karlsruhe
    Hobbes, Vom Menschen , 1658: »Die größte Wohltat der Sprache ist, daß wir befehlen und Befehle verstehen können.«
    Mit Jörg Widmann den szenischen Rahmen der Babylon-Oper durchgesprochen. Es wird sieben Bilder geben, ein Vorspiel, ein Nachspiel und ein Intermezzo.
    Den Essay über Bürgerausschaltung in Demokratien an den Spiegel geschickt.
31. Oktober, Karlsruhe
    Aus Amsterdam die Nachricht, Harry Mulisch sei gestern gestorben.
1. November, Frankfurt – Abu Dhabi
    Lektüre im Flugzeug. Luhmann erliegt der Suggestion seines Theorieansatzes, den er für diesmal mit dem Realen gleichsetzt, wenn er die These aufstellt, im modernen Protest protestiere die »Gesellschaft« gegen sich selbst, ja, sie reite mit einer stumpfen Lanze gegen ihre eigene Komplexität. Zwar ist es wahr, daß viele Protestphänomene eine donquixoteske Seite aufweisen, doch sind sie oft mehr als nur bemitleidenswerte Selbstmißverständnisse von subjektiven Molekülen in überkomplexen Nährlösungen. Luhmann meint, der »Bürger« sei nach der Ausdifferenzierung des Subsystems Politik nur noch das Relikt einer verblichenen republikanischen Folklore – eine Vogelscheuche, die sich für die Mitte des Ganzen hält. Hierin täuscht er sich gründlich, denn gerade der protestierende Bürger ist das unentbehrliche Widerlager eines Systems, das dazu neigt, sich bis zur Realitätsblindheit in endogene Prozeduren einzuspinnen.
    Die Systemtheorie Luhmannschen Typs liefert zur Bürgerausschaltung das logische Formular, solange sie suggeriert, jede beliebige Regierung in einem irgendwie funktionierenden Verfassungsstaat sei für beliebige Staatsbürger gut genug.
    Die Etihad-Maschine setzt sacht auf der Landebahn von

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