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Zeit der Geheimnisse

Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Nicholls
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erstaunlich menschlich, wenn auch flacher und breiter als ein normales Gesicht, und die Hörner fehlen. Er wirkt genauso … genauso wild wie der Grüne Mann. Wie jemand, der geradewegs aus einer Geschichte herausgetreten ist, sieht er aus, nicht wie einer, der auf dem Weg in Grandpas Laden ist, um Briefmarken zu kaufen.
    Vorsichtig weiche ich zurück. Er sieht aufmerksam den Pfad hinunter zu der Weide mit der Scheune. Ob er weiß, dass der andere da ist? Aber warum geht er dann nicht hin und stellt ihn?
    Worauf wartet er?
    Wie ein Indianer schleiche ich die Straße hinunter und biege um die Kurve. Dort ist eine andere Weide. Ich klettere über den Zaun und renne los.
    Die richtige Weide müsste hinter dieser liegen. Dahinter oder daneben. Ich ducke mich unter den Elektrozaun und sehe mich um. Diese Weide ist größer als die andere, länger, holpriger, mit Lehmklumpen, auf denen gelbliches Gras wächst und hier und da ein dürrer Baum. Ich bin mir nicht sicher, wo sie an die mit der Scheune stößt. Ich glaube, da muss es sein – da drüben.
    Ich renne hinüber. Meine Gummistiefel machen ein quatschendes Geräusch in dem lehmigen Boden. Erst an der Mauer bleibe ich stehen.
    Das ist die Weide, tatsächlich. Die Bäume schwanken hin und her, hin und her, wie bei einem Wirbelsturm.
    Ich stolpere zur Scheune hinüber.
    »Mann! Mann!«
    Er ist nicht da.
    »Mann!«
    Ich renne wieder hinaus und einmal ganz um die Scheune herum, für den Fall, dass er sich versteckt.
    Aber da ist er auch nicht.
    »Mann!« Ich renne in die Scheune zurück. Er ist weg. Ich suche in allen Winkeln und hinter den Säcken und in der Schrottecke, aber er ist nirgends. Seine Eiche biegt sich und raschelt, gelbrotes Laub fällt herab, wie Wasser von einem nassen Hund spritzt. Ich stehe bis über die Knöchel in totem Laub.
    »Mann!«
    Wieder hinaus.
    »Molly – «
    Er lehnt an der Wand und hält sich am Türrahmen fest. Er zittert genauso wie der Baum in der Scheune, so sehr, dass ich sicher bin, dass er gleich umfällt.
    »Er ist da. Auf der Straße! Der Stech– «
    Ich strecke eine Hand nach ihm aus, er nimmt sie und drückt meine Finger so fest, dass ich glaube, sie müssten jeden Moment durchbrechen.
    »Nicht doch«, sagt er. »Sch-sch!«
    Ich spüre seine Anspannung. Ich spüre die Anspannung in seiner Hand, und das macht mir Angst. Das hier ist nicht mehr mein starker Waldgott.
    »Kommt er dich holen?«, wispere ich. Er sieht auf mich herab und streicht mir über den Arm.
    »Nein«, sagt er. »Noch nicht.«
    Noch nicht.
    »Hilf mir«, sagt er, und erst verstehe ich gar nicht, was er meint. Doch dann legt er mir einen Arm um die Schultern und ich begreife.
    Er stützt sich auf mich, und ich halte ihn. Er ist schwerer, als ich gedacht hatte, sein warmes, zitterndes Gewicht lastet auf meinem Arm. Sein Geruch wird wieder stärker, und ich halte mir die Nase zu. Zusammen machen wir uns auf den Weg zurück in die Scheune, Schritt für Schritt.
    Als wir es geschafft haben, sackt er zusammen, mitten in das Laub am Boden. Die Eiche zittert einmal kurz und steht dann still. Sie ist mittlerweile ein richtiger Baum, ihre Äste strecken sich durch das Loch im Dach. Der Mann lehnt seinen Kopf an den Stamm und schließt die Augen. Unter seiner dunklen Gesichtsfarbe ist er bleich. Die Wunden an seinen Beinen sind wieder aufgeplatzt. Die Haut ist voller schwarzer und violetter Blutergüsse, und um die Wunden herum und an der zerfetzten Hose kleben getrocknetes Blut und Eiter.
    Auf einmal fällt mir auf, dass ich selbst auch zittere.
    »Wieso kommt er noch nicht?«, frage ich. »Wieso ist er überhaupt hinter dir her? Was hast du ihm getan?«
    Er hält die Augen geschlossen.
    »Sag’s mir!«, bitte ich ihn. »Sag’s mir jetzt! Geh nicht wieder weg!«
    Er schüttelt den Kopf, reibt ihn am Baumstamm.
    »Bleib hier! Geh nicht weg! Wieso kommt er noch nicht?«
    »Die Sonne …«
    »Was hat denn die Sonne damit zu tun?«
    Am liebsten würde ich ihn schütteln. Seine Gesichtsfarbe ist fast grau, und die Lippen sind blau, mit einem dünnen weißen Rand.
    »Nein«, sagt er.
    »Was nein?«
    »Ich kann nicht mehr bleiben«, sagt er und fängt an, sich langsam aufzulösen. Immer weiter löst er sich auf! Ich will ihn festhalten, aber er ist schon fort, und ich bleibe zurück mit nichts als der Eiche und dem Laub am Boden.
    Der Baum erbebt einmal, dann ist er still.
     
    Die merkwürdige Gestalt auf der Straße – der Stechpalmenkönig – steht aufrecht am

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