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Zeit der Geheimnisse

Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Nicholls
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beunruhigen.«
    »Ich …« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Er streckt eine Hand aus und berührt meine. Ich zittere.
    »Ich will nicht, dass sie mich finden«, sagt er.
    »Die Jäger?«
    Er antwortet nicht. »Du passt doch gut auf, oder?«, sagt er. »Die Nächte werden schon länger. Der Stechpalmenkönig wird stärker …«
    »Der Stechpalmenkönig«, wiederhole ich. »Wer ist das denn?« Aber ich weiß die Antwort schon. »Das war der Mann auf dem Pferd, stimmt’s? Der die Jagd angeführt hat? Der hinter dir her ist?«
    Er schließt wieder die Augen.
    »Hab keine Angst«, sagt er. »Ich wollte dir keine Angst machen.«
    »Mir könnte er doch nichts tun?«, sage ich. »Oder?«
    »Natürlich könnte er.« Er sieht mich an, als wäre er überrascht, dass ich so etwas überhaupt frage. »Vielleicht solltest du nicht mehr kommen«, sagt er. »Ich will nicht, dass er dir wehtut.«
    »Würde er das tun?«, frage ich. Er antwortet nicht. »Er will dir wehtun«, sage ich. »Hab ich recht?«
    Der Mann lehnt mit dem Rücken am Baum und sieht mich an, ohne sich zu rühren.
    »Ja«, sagt er dann. »Er will mir wehtun.«
    Wir sind still. Ich fühle mich unsicher und auch ein bisschen ängstlich. Er will doch sicher nicht einfach hier sitzen und warten, bis der Stechpalmenkönig kommt? Er will doch sicher irgendwas tun?
    »Kennst du nicht irgendeinen Zauber, der dagegen wirkt?«
    »Zauber?«
    »So wie der, mit dem du meine Blume gemacht hast.«
    »Deine Blume hat sich selbst gemacht«, sagt er.
    »Kannst du auch bei anderen Sachen machen, dass sie sich selbst machen?«, frage ich hoffnungsvoll.
    Er bricht in Lachen aus, aber aus dem Lachen wird Husten, schrecklicher rasselnder Husten, und ich bekomme Angst. Ich glaube nicht, dass der Husten noch mal aufhört, aber irgendwann ist es vorbei.
    »Alles in Ordnung?«, frage ich.
    Er schüttelt den Kopf. Ich überlege, ob ich lieber gehen soll. Aber er streckt eine Hand aus, so als ob er will, dass ich bleibe.
    »Du kannst so viele Sachen«, sage ich. Ich muss an alles denken, was zum Frühling gehört: das Schöllkraut auf der Wiese hinter Grandpas Haus, Amselbabys im Nest in unserem Pflaumenbaum, die unaufhörlich ihre Schnäbelchen aufsperren, schimmernde Spinnweben, die morgens über dem Gras liegen. »Kannst – « Ich breche ab. »Kannst du auch machen, dass Tierbabys zur Welt kommen?«
    Wieder streckt er eine Hand aus, dreht sie nachdenklich um, sodass die Handfläche nach oben zeigt. Ich frage mich, ob er vorhat, irgendetwas für mich zu machen, eine kleine Maus zum Beispiel, oder vielleicht ein Eichhörnchen. Er muss meine Gedanken erraten haben, denn er sieht auf, und seine Augen lachen. »Ohne die Mutter dazu kann man ja wohl kein Mausejunges machen, oder?«, neckt er mich. Efeu rankt aus seiner Handfläche und kriecht seinen Arm hoch. Er hält die Hand hoch und beobachtet den Efeu.
    Mir wird ganz eng in der Brust. Ich schaue zu Boden. »Könntest du auch die Mutter machen?«, frage ich leise. »Könntest du jemanden für mich lebendig machen, wenn ich dich darum bitten würde? Ich meine – dein Kopf ist auf Grabplatten, sagt meine Lehrerin. Du bist der Gott der Wiedergeburt, sagt sie. Wenn jemand tot ist – könntest du ihn wieder lebendig machen? Könntest du das?«
    Er antwortet nicht, und ich schaue auf. Aber er ist nicht mehr da.
     

17 - Ferngespräch
    Es ist Abend. Dad ruft an.
    »Geht’s dir gut, Schätzchen?«, fragt er.
    Erst nicke ich, dann fällt mir ein, dass er mich ja nicht sehen kann. »Ja«, sage ich.
    »Tut mir leid, dass ich mich so unmöglich benommen habe, Schätzchen«, sagt er. Er klingt müde, so als wäre er mit den meisten seiner Gedanken ganz woanders. »Ich tue mein Bestes.«
    »Ich weiß«, sage ich und lehne meinen Kopf gegen die Wand. »Mir tut’s auch leid.«
    »Friede?«
    »Friede.«
    Danach sagen wir beide nichts mehr. Ich schlage mit den Fersen gegen die Treppenstufe und warte, dass er was sagt.
    »Hattest du einen schönen Nachmittag?«, fragt er schließlich.
    »Ich hab diesen Mann besucht«, erzähle ich. »Den, den ich neulich kennengelernt habe. Er wohnt in einem kleinen Haus, einem Haus wie aus einem Buch, weil er sich verstecken muss vor den Jägern, die ihn töten wollen. Er kann aus dem Nichts irgendwelche Dinge entstehen lassen, zum Beispiel Bäume und Blumen und Zaubertränke.«
    »Hört sich ganz nützlich an«, sagt Dad. »Vielleicht kannst du ihn mir mal vorstellen, wenn ich euch das nächste Mal

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