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Zeit der Geheimnisse

Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Nicholls
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besuche.«
    »Möglich«, sage ich, aber sehr überzeugt klingt es nicht. »Nur – er will nicht, dass irgendwer außer mir ihn sieht. Er macht sich unsichtbar.«
    »Tja, dann«, sagt Dad und lacht leise. Allerdings verstehe ich nicht, was daran jetzt lustig gewesen sein soll.
    Hannah steckt den Kopf zur Küchentür herein.
    »Essen!«, sagt sie.
    Ich lege die Hand über den Hörer.
    »Willst du mit Dad sprechen?«
    Hannah schüttelt den Kopf und verschwindet.
    »Ich muss Schluss machen«, sage ich.
    »Gut«, sagt Dad. Ich höre, wie er scharf Luft holt. »Bekomme ich keinen Kuss?«
    Ich küsse meine Finger und drücke sie aufs Telefon.
    »Hier. Angekommen?«
    »Warte – «, sagt Dad. »Ja – nein – nein – o ja! Jetzt. Angekommen!«
    »Du bist dran.«
    »Okay«, sagt Dad. Ich höre, wie er lächelt. »Ich schicke ihn jetzt los. Bist du so weit?«
    Ich kneife die Augen zusammen und warte ab, so lange, wie ein Kuss durch die Telefonleitung braucht für den Weg von Newcastle. Der Kuss saust in Zickzacklinien durch Drähte und quer durch den Raum. Dann schießt er durch den Hörer und landet – peng – auf meiner Backe.
    »Angekommen?«, fragt Dad.
    »Ja«, sage ich. »Angekommen.«
    »Dann lauf schnell«, sagt Dad. Auf einmal hört er sich traurig an. Ich lege auf, damit ich es nicht hören muss.
     

18 - Goldenes Laub und Könige
    Die grünen Blätter an den Bäumen färben sich gelb und fallen vom Himmel. Das machen sie zu Hause auch, nur dass man es da nicht bemerkt, weil es nicht so viele gibt. An den Hecken sind Hagebutten, die Weißdornbüsche bekommen rote Beeren, die Luft riecht schon nach Kälte, und das Laub am Boden knistert, wenn man hindurchstapft.
    Eines Morgens, als wir in der Schule sitzen, kommt ein starker Wind auf. Wir gehen alle raus und versuchen die Blätter zu fangen, die von den Bäumen an der Straße herunterwirbeln. Wir sammeln sie ein und nehmen sie mit, um sie zwischen den Seiten von Wörterbüchern und Atlanten zu pressen. Am Mittwoch holen wir sie wieder hervor, laminieren sie und machen Mobiles daraus, die wir an die Decke hängen. Mrs. Angus – die eine ganze Menge über Bäume weiß, wie sich herausstellt – bringt uns die lateinischen Namen bei, die wir in meiner alten Schule nie gelernt haben. Eiche – Quercus robur. Esche – Fraxinus excelsior. Weißdorn – Crataegus monogyna.
    Ich stelle mir gern vor, dass das die richtigen Namen der Bäume sind, die, mit denen man sie vertraulich anreden würde, wenn man zufällig mit ihnen ins Gespräch käme. Quercus Robur klingt lustig und nett, Fraxinus Excelsior nach einem tapferen Ritter. Crataegus Monogyna macht ein bisschen Angst, es klingt nach einem schrumpeligen alten Hexenbaum mit langen roten Fingern.
    Stechpalmenblätter nehmen wir nicht, und das ist auch gut so, weil ich nichts von dem Stechpalmenkönig in meinem Buch haben will. Aber ich frage Miss Shelley nach ihm.
    »Der Stechpalmenkönig?«, sagt sie. »Wo hast du von ihm gehört?«
    »Der Mann hat von ihm gesprochen. Sie wissen doch, der, von dem ich Ihnen erzählt habe. Der von der Statue in der Kirche, den ich getroffen habe.«
    Auf der anderen Seite des Tisches flüstert Josh Matthew etwas zu, und Matthew prustet los. Miss Shelley beachtet die beiden nicht.
    »Ah ja«, sagt sie. »Also, der Stechpalmenkönig ist auch ein heidnischer Gott. Er stellt das Gegengewicht zum Eichenkönig dar – was ein anderer Name für deinen Grünen Mann ist. Der Eichenkönig herrscht im Frühling und im Sommer, der Stechpalmenkönig im Herbst und im Winter.«
    Meiner ist also der Gute, und der Stechpalmenkönig der Böse.
    »Kämpfen sie?«, frage ich. »Gegengewicht – heißt das, dass sie Feinde sind?«
    »So ähnlich«, sagt Miss Shelley. »Sieh mal, Molly, das ist alles ziemlich kompliziert. Es gibt so viele Geschichten …«
    Aber der Stechpalmenkönig ist keine Geschichte! Wieso kapiert das keiner? Er ist ein wirklicher Mensch, und er ist hinter dem anderen her. Hinter dem Grünen Mann oder dem Eichenkönig oder wie er auch heißen mag.
    Miss Shelly sieht mich nachdenklich an. Und auch Emily, die mir gegenübersitzt.
    »Der Stechpalmenkönig tötet ihn«, sage ich. »So ist es doch, oder? Der Grüne Mann stirbt, das haben Sie doch selbst gesagt. Heißt das, der Stechpalmenkönig tötet ihn?«
    »In einigen Versionen der Geschichte ja«, sagt Miss Shelley. »Der Stechpalmenkönig und der Eichenkönig kämpfen an Mittwinter, und der Stechpalmenkönig besiegt den

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