Zeit der Geheimnisse
Patin oder einfach nur, dass ich unsichtbar wäre und so weit weg von hier wie möglich.
Aus der Küche höre ich Grandmas laute Stimme und Grandpas leise. Grandpa sagt: »Wenn es das ist, was du möchtest«, und Grandma sagt: »Jemand muss es ja tun.« Dann stößt sie scharrend ihren Stuhl zurück und steht auf. Gleich darauf telefoniert sie. Ich höre, dass sie redet, aber was sie sagt und mit wem sie spricht, kann ich nicht sagen. Und ich frage mich, ob wir wohl zu Tante Meg oder zu Tante Rose geschickt werden, ob ich mir ein Zimmer mit grässlichen erwachsenen Cousins oder nervigen Babys teilen muss und ob ich mein ganzes Leben bei einer anderen Familie in irgendeiner Ecke verbringen muss.
Ich will nicht auf mein Zimmer gehen – ich will, dass Grandpa mich findet und sieht, wie unglücklich ich bin und wie leid mir alles tut. Ich höre das Klappern von Töpfen nebenan und den Regen, der noch immer an die Scheiben trommelt, und auf einmal kommt aus dem Radio Musik von den Archers, und ich merke, wie mir die Tränen in die Augen steigen. Sie machen Abendessen, ganz ohne mich.
Schließlich ist es dann doch Grandma, die mich findet. Sie kommt in den Flur, die Hände voller Zeitungen und Scherben, und sieht mich da sitzen.
»Molly Alice!«, sagt sie. »Was um Himmels willen machst du denn hier?«
»Ich weiß nicht«, sage ich kläglich.
»Das bringt auch nichts, wenn du da sitzt und dir leidtust«, sagt Grandma. »Komm schon, steh auf. Du holst dir nur eine Erkältung, wenn du noch lange da sitzt.«
Nie hätte meine Mum so was gesagt, wenn sie mich im Dunkeln auf der Treppe gefunden hätte. Meine Mum konnte sehr wohl sauer werden – einmal hat sie Hannah eine ganze Schüssel Spaghetti über den Kopf gekippt –, aber hinterher hat sie sich immer entschuldigt, und wir haben zusammen Eis gegessen oder so, damit klar war, dass wir uns trotzdem noch lieb hatten. Und dann haben wir über alles geredet – was wir gemacht hatten, was sie gemacht hatte und was wir alle beim nächsten Mal anders machen würden. Mum redete gerne über Sachen. Und nie hätte sie mich die ganze Nacht auf der Treppe sitzen lassen. Mein Dad auch nicht. Glaube ich jedenfalls. Ich fühle, wie mir die Tränen kommen, und ich drehe mich weg, damit sie nicht wieder denkt, ich täte mir selbst leid. Aber gleichzeitig will ich, dass sie es sieht. Damit sie weiß, wie schlecht ich mich fühle, ihretwegen.
»Nun komm«, sagt Grandma. »Komm schon, steh auf. Steh auf, Molly.« Ich presse die Lippen aufeinander, aber die Tränen laufen mir trotzdem aus den Augen und übers Gesicht, und ich kann nichts dagegen machen.
»O nein«, sagt Grandma. »Jetzt wein doch nicht, Schätzchen. Hör mal – es tut mir leid. Nun komm. Komm schon, Schätzchen.«
Sie schiebt mich in die Küche und drückt mich auf einen Stuhl. Grandpa sieht von seinem Schneidebrett auf.
»Molly? Alles in Ordnung mit dir?«
Nein, möchte ich sagen, siehst du das nicht? Aber Grandma lässt mich nicht zu Wort kommen.
»Sie ist einfach müde«, sagt Grandma. »Es ist ja auch nicht schön, wenn man mit anhören muss, wie Grandma und Grandpa herumschreien, stimmt’s?«
Ich wische mir über die Augen. Auch wenn ich weine, heißt das ja noch lange nicht, dass ich wie eine Fünfjährige behandelt werden möchte. Grandpa sieht mich besorgt an, sagt aber nichts, sondern schneidet weiter seine Kartoffeln klein. Grandma macht mir einen Tee in einer Babytasse mit Kaninchen drauf. Ich lege beide Hände darum und sehe zu, wie Grandpa weiter Essen macht und Grandma ihre Hände an einem Lappen abwischt.
»Ich habe mit eurem Dad gesprochen«, sagt sie plötzlich. Mein Kopf fährt so schnell hoch, dass ich mir fast den Tee übers Hemd kippe.
»Gehen wir nach Hause?«
»Er holt euch übers Wochenende«, sagt Grandma. »Um zu sehen, wie ihr drei zurechtkommt.«
»Dieses Wochenende?«, frage ich. Ganz tief in meinem Magen fühle ich einen dumpfen Schmerz. Ich sollte mich freuen, ich weiß. Aber ich kann nur an eins denken: daran, wie es beim letzten Mal war, als wir da waren. Daran, wie Dad uns angestarrt hat, so als hätte er völlig vergessen, wer wir sind. Daran, wie Hannah ihn so genervt hat, dass ich ihn irgendwann kaum wiedererkannt habe, bis er wie jemand war, der den Teil von sich, der uns liebt, einfach abschalten konnte. Und dieses Mal wird keine Tante Rose dabei sein. Dieses Mal sind es nur wir drei.
Ich habe Angst, merke ich.
»Freust du dich nicht?«, fragt Grandpa.
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