Zeit der Geheimnisse
draußen.
Ich habe also mein Fahrrad geholt und bin erst mal den Hügel runtergefahren, dreimal, das sollte Glück bringen. Dann fahre ich in die andere Richtung, immer die Straße hoch, vom Dorf weg, den gleichen Weg wie gestern.
Als ich an die Stelle mit dem Weißdorn komme, halte ich an. Auf dem Gras sind dunkle Flecken, die der Regen nicht weggewaschen hat. Mir wird irgendwie mulmig, aber gleichzeitig bin ich auch erleichtert.
»Siehst du!«, sage ich und stelle mir dabei vor, dass Josh neben mir steht. »Er war eben doch echt.«
Der Josh in meinem Kopf sieht beeindruckt aus.
Ganz vorsichtig gucke ich noch mal hin. Er hatte in einer Art Senke gelegen, in der jetzt eine tiefe Regenwasserpfütze ist, aber das Wasser ist voller dicker dunkelroter Tropfen. Wie von Farbe.Die Flecken sind nicht nur da, wo dieser Mann gelegen hat. Da sind noch mehr, an der Böschung neben der Straße. Wie eine Spur, wie die Brotkrumen bei Hänsel und Gretel. Sie biegt ab, tropf tropf tropf, nach links, führt an dem Schild mit der Aufschrift PRIVATGRUNDSTÜCK vorbei und dann auf ein Stück Landstraße, das ich nie gegangen bin.
Ich steige vom Rad und betrachte das Schild. PRIVAT heißt immer GEFAHR und ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN und BEI ZUWIDERHANDLUNG ANZEIGE.
Aber ich will den Mann finden. Ich will beweisen, dass sie nicht recht hatten, Josh und Hannah und Grandma. Ich will ganz sicher sein, dass ich ihn mir nicht ausgedacht habe. Es stimmt schon, manchmal denke ich mir Sachen aus, und manchmal vergesse ich einfach, was wirklich ist und was nicht. So wie wenn ich spiele, dass das Haus brennt, bis ich fast den Rauch unter der Tür hindurchdringen sehe. Außerdem will ich wissen, wer diese Jäger waren und wie sie sich plötzlich in Luft aufgelöst haben und warum das Gesicht des Mannes in unserer Kirche ist.
Ich starre das Schild an und ziehe meine schlimmste Grimasse: Ich runzle die Stirn, beiße die Lippen zusammen, ziehe die Augenbrauen hoch. Es ist mir egal, ob ich Ärger kriege. Das Grundstück von jemandem zu betreten ist ja wohl nicht so schlimm wie seine Töchter zu verlassen. Genau das hat Dad mit uns gemacht. Und ist schließlich auch damit durchgekommen.
Also.
Über diesem Stück Straße bilden die Bäume eine Art Dach, sie ist so etwas wie ein lebender, raschelnder Tunnel. Die Blätter fangen gerade an, sich an den Rändern rot zu färben, und sie winken sich über meinem Kopf zu; Blätter, die sich Geheimnisse erzählen, von Baum zu Baum. Auch hier ist das Blut noch zu sehen. Wenn die Jäger zurückkämen von dort, wohin sie verschwundensind, dann würden diese schnüffelnden Wölfe ihn in gerade mal fünf Sekunden aufspüren, jede Wette.
Ich frage mich nur, ob sie auch über einen Zaun setzen könnten? Da vorn ist nämlich einer, und hinter dem Zaun ist eine Weide mit Kühen und einer breiten Spur schlammiger, aufgewühlter Erde, wo das Vieh zum Melken geht. Das Tor ist geschlossen, aber auf der Weide steht so ein kleines Steinhaus mit einem halb eingestürzten Dach. Eine Holzfällerhütte. Oder ein Hexenhaus. Genau der richtige Ort, um sich zu verstecken, wenn jemand einem wehgetan hat.
Ich klettere übers Tor, springe auf der anderen Seite runter, und sofort sind meine Schulschuhe, die Söckchen und meine Beine bis oben voller Schlamm.
Ich gehe weiter.
Das Haus ist kein richtiges Haus. Es ist eine Scheune. Mit einer alten Scheunentür aus zwei Hälften. Die obere Hälfte hatte eigene Scharniere, sodass die Pferde (oder Kühe) den Kopf hinausstrecken und rausgucken konnten. Aber das Holz ist verfault, die obere Hälfte ist schon ganz abgefallen.
Ich gucke vorsichtig um den modrigen Türstock.
Innen drin sehe ich Holzstapel, Zementsäcke und kalte Asche, wo jemand mal ein Feuer gemacht hat, aber sonst ist es fast komplett leer. Das halbe Dach ist eingestürzt.
Niemand ist da.
Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder enttäuscht sein soll.
»Hallo?«, rufe ich. »Hallo? Ich bin’s, Molly. Molly ist hier.«
Keine Antwort.
»Bitte«, sage ich zu den Stapeln von gesplittertem Holz und dem Himmel. »Bitte sei hier. Bitte sei nicht tot.«
Und auf einmal bewegt sich die Dunkelheit vor der Wand.
»Hier bin ich«, sagt er.
Ein Mann in der Scheune
Er ist nicht tot.
Er lehnt an der Wand und hat die Beine ausgestreckt. Sie scheinen nicht mehr zu bluten, aber das ist schwer zu erkennen, weil er auf der dunklen Seite liegt, auf der Seite, über der es noch ein Dach gibt. Ich bin auf der
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