Zeit der Geheimnisse
sonnigen Seite, auf der es nichts mehr gibt als ein Loch und Balken und Wolken und Himmel. Sein Gesicht ist nicht zu sehen. Was ich am deutlichsten an ihm sehen kann, ist die Sohle eines nackten Fußes an dem Bein, das er in meine Richtung ausstreckt. Sie ist hart und weiß und voller Lehm.
Plötzlich weiß ich nicht, was ich sagen soll.
»Bist du gut nach Hause gekommen?«, fragt er. »Sie haben dich nicht gefunden, oder?«
Ich schüttle den Kopf.
»Dann ist es ja gut«, sagt er. Er lehnt seinen Kopf zurück, dann verzieht er das Gesicht, als täte ihm die Bewegung weh.
Ich trete ein Stück näher heran.
»Du hast keine Schuhe an.«
»Nein«, sagt er.
Eine Jacke hat er auch nicht. Jetzt, wo ich näher bei ihm bin, sehe ich, dass er von der Taille aufwärts nackt ist. Ich sehe seine festen Brustmuskeln unter der braunen Haut.
Mein Dad hat längst nicht solche Muskeln.
»Brauchst du was?«, frage ich. »Essen? Hilfe?«
Er lehnt den Kopf an die Wand und lächelt. Es ist ein nettesLächeln. Müde, aber man könnte meinen, er freut sich wirklich.
»Nein«, sagt er.
So ähnlich hat meine Mum mich manchmal angesehen, wenn ich als kleines Kind sonntagmorgens zu ihr ins Bett gekommen bin und sie noch halb schlief. Ich gehe noch ein Stück näher heran. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm glauben soll. Auf dem Weg hierher, auf der Straße, war ich fast sicher, dass er Miss Shelleys Gott war, aber jetzt, wo ich hier bin, sind die Zweifel wieder da. Was, wenn er einfach nur ein Mensch ist, der krank ist, so wie meine Mum krank war?
Wenn niemand ihm hilft, stirbt er dann auch?
»Gibt es dich wirklich?«, frage ich plötzlich.
Er streckt eine Hand aus. »Hier.«
Ich gehe hinüber und nehme seine Hand. Die Haut ist rau und warm. Die Nägel sind abgebrochen, die Finger voller Krümel von Lehm und irgendetwas anderem.
»Wirklich«, sagt er.
Er sieht ganz genauso aus wie der Kopf in der Kirche, bis auf die Blätter. Er hat braune lockige Haare, und dort, wo die Sonne darauf scheint, leuchten einige Strähnen dunkelrot, andere hellrot. Er hat eine dicke braune Hose an, die nur übers halbe Bein geht und ganz runzlige Falten wirft, so ähnlich wie beim Rhinozeros in Rudyard Kiplings Geschichten für den allerliebsten Liebling . Sie sind zerfetzt und zerrissen von den Wolfszähnen und voller Schlamm und stark riechendem Blut, aber wenn ich die Augen zusammenkneife und zur Seite sehe, kann ich es fast vergessen.
»Dein Kopf ist in unserer Kirche«, sage ich.
Er scheint nicht überrascht.
»Ach ja?«, sagt er. Er sieht mich wieder mit diesem freundlichen Blick an. Dann fallen ihm die Augen zu.
Er schläft.
Eine Weile bleibe ich noch da stehen und sehe ihn an, aber er rührt sich nicht. Dann stehe ich so langsam und leise ich kann auf und gehe zur Tür.
Als ich mich umdrehe und noch einmal zurückschaue, ist er fort.
Wirklich wahr
Ich setze mich oben aufs Tor und sehe zum Himmel hoch. Den Mann gibt es also wirklich.
So wie ich es sehe, nach Fünf-Freunde-Art, gibt es zwei Möglichkeiten:
Erstens: Es gibt ihn wirklich, aber er ist ein völlig normaler Mensch ohne eine Spur von Magie. Ich sollte (vermutlich) die 999 wählen, so wie die Leute vom Rettungsdienst es uns beigebracht haben, und ihm das Leben retten. Dan komme ich in sämtliche Zeitungen – Mädchen rettet verletzten Mann. Vielleicht bekomme ich sogar eine Medaille.
Zweitens: Er ist etwas völlig anderes – der Grüne Mann, der alte Gott aus der Kirche. Und alles Mögliche kann als Nächstes passieren.
Grandpa bedient gerade eine ganze Schlange von Kunden, als ich zur Ladentür hineinstürme. Von Grandma ist nichts zu sehen. Hannah ist in der Küche, sie kniet auf einem der Küchenstühle. Sie malt ihre Unterschrift in lila Schnörkelschrift.
»Hannah. Hann aah .«
Sie dreht sich weg, nur leicht, aber doch so, dass sie mir völlig den Rücken zukehrt. Sie macht alle Punkte und i-Punkte zu kleinen Herzen.
»Hann aah .« Ich zerre an ihrem Arm. »Ich hab ihn gefunden. Den Mann aus der Kirche – diesen Gott, von dem Miss Shelley uns in der Kirche erzählt hat. Den, der sterben muss, damit es Winter wird. Ich weiß jetzt, wo er ist. Wir können zu ihm gehen und ihn retten!«
Hannah reißt sich los.
»Lass mich in Ruhe«, sagt sie. »Ich hab zu tun. Ich hab keine Zeit für Spielchen.«
»Hannah – ich mach keinen Quatsch, ganz ehrlich nicht. Ich hab einen Mann gefunden, auf einer Weide. Er ist verletzt. Wir
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